Die Diskussion über die Abiturprüfungen finde ich völlig absurd. Jetzt sollen sie doch stattfinden, vorher sollten sie ausfallen. Finden sie statt, ist es die falsche Entscheidung und zeigt, dass noch genug im System verhaftete die Bedeutung dieser Krise nicht verstanden haben.
Völlig auf die Spitze treibt es dieses Interview in der Zeit mit Bildungsforscher Olaf Köller, der sich darüber beklagt dass ohne Prüfungen die Noten anders verteilt wären.
Nehmt diesen Wortwechsel:
Köller: Im Gymnasium macht das ein oder zwei Zehntelpunkte der Gesamtnote aus.
ZEIT: Das sind minimale Unterschiede.
Köller: In Fächern wie Psychologie oder Medizin entscheiden solche Unterschiede darüber, ob man einen Studienplatz bekommt. Das bedeutet, dass die jetzigen Abiturienten gegenüber dem Jahrgang von 2019 oder auch dem von 2021 einen Vorteil haben werden. Denn die Jahrgänge bewerben sich ja nicht immer alle geschlossen für einen Studienplatz. Geradezu jubeln dürfen dieses Jahr alle Schüler, die ihr Abitur nicht auf einem Gymnasium ablegen, sondern auf Gesamtschulen, Sekundarschulen oder beruflichen Gymnasien.
Da ist das Problem doch nicht die nicht oder doch stattfindende Prüfung! Wenn Zehntelnoten über Studienzulassungen entscheiden, wird doch völlig offensichtlich, dass das momentane NC-System das Problem ist.
Etwas Kontext. Ich hatte eine ziemlich gute Abiturnote, für meine Schule zumindest. Danach war ich lange an der Uni im MINT-Bereich – weil ich das volle Programm durchgegangen bin, Bachelor, Master, Doktorat (in Frankreich), Post-Doc (an einem deutschen Forschungsinstitut). Erstsemester als Mentor zu beraten war im Bachelor mein Nebenjob. Und ich kann eines mit absoluter Gewissheit sagen: Die Abiturnote bedeutet gar nichts.
Teilweise ist eine hohe Note eher ein Warnsignal, wofür ich selbst ein gutes Beispiel bin. Da mein Studium Fächer beinhaltete, in denen ich (trotz guter Note) nicht stark war, war ich im ersten Semester ein eher schlechter Student. Und fiel prompt durch eine wichtige Prüfung durch. Richtig zu lernen hatte ich in der Schule nicht gelernt, bzw: Zum Glück hatte ich es (mit einer Lernpartnerin für Mathe) doch etwas kennengelernt, nur beileibe nicht gerafft, dass ich es jetzt immer so machen muss. Denn an der Uni ist jede Prüfung auf dem Level einer Abiturprüfung. Der Unterschied ist, dass sie zu einem für das Studium relevanten Thema ist. Es kommt Unmengen an Stoff ran, man muss Lösungen auswendig wissen, einfach zu kombinieren – was in der Schule je nach Fach reicht – können hier nur noch die allerwenigsten. Wären meine Noten in der Schule etwas schlechter gewesen, hätte ich das mit dem konsequenten Lernen besser drauf gehabt, dann wäre mir das Studium gerade anfangs leichter gefallen.
Deswegen geht mir nicht in den Kopf, wie jemand mit Ahnung vom System ausfallende Abiturprüfungen beklagen kann. Jedem mit auch nur minimalen Einblick in den Universitätsalltag solle klar sein, dass die Noten außerhalb der künstlichen Strukturen beim Zulassungsverfahren komplett bedeutungslos sind. Da selbstverschuldet und künstlich aufrechterhalten, ist das ein einfach zu lösendes Problem. Richtig wäre: Prüfungen ausfallen lassen – selbstverständlich! Selbst eine minimale Ansteckungsgefahr ist noch viel zu groß für so ein bedeutungsloses Ritual – und den NC abschaffen. Der ist doch sowieso nur eine Krücke, um fehlende Ressourcen zu verschleiern. Er sortiert nicht die geeigneten Kandidaten auf den richtigen Studienplatz, sondern ist eine Zufallsfunktion als Filter, mit dem zu wenige Studienplätze an zu viele Interessenten verteilt werden. Was grundgesetzwidrig ist, egal was die Richter sagen.
Es ist das Studium selbst, das filtern sollte. Und idealerweise nicht strikt mit Noten. Vielmehr müsste es darum gehen, den Studenten die spätere Arbeit zu zeigen und dafür das nötige Wissen anzubieten. Jeder merkt dann selbst sehr schnell, ob er dafür geeignet ist oder nicht. Ist er es nicht? Dann mach was anderes. Ist er es? Dann ist die Note schnuppe.
Mir ist klar, dass in einem begrenzten Umfang Prüfungen da helfen können: Wer keine Ahnung von Biologie hat, ist vielleicht später kein toller Forscher für Medizin. Wer die Grundlagen der Informatik nicht versteht, bekommt später wahrscheinlich auch bei einem Job Probleme, der sie benötigt. Da ist eine Prüfungsnote dann auch ein gutes Signal an den Student selbst. Aber sollte das die Regel sein, braucht man für diese Erkenntnisfunktion für jeden Kurs eine universitäre Abiprüfung? Nein. Spielt hier die Abiturnote noch irgendeine Rolle? Nein!
Damit Studenten frei wählen können fehlen die Ressourcen? Dann schafft sie herbei! Wir sehen doch gerade, dass wenn gewünscht Geld im Überfluss vorhanden ist. Dann muss nach der Coronakrise eben ein echtes Paket für die Universitätsfinanzierung aufgesetzt werden, sodass jeder sein Wunschstudium zumindest ausprobieren kann.
PS: Es gibt eine systemerhaltende Lösung für Konservative. Statt den NC abzuschaffen kann man ihn runtersetzen. Sodass eben nicht mehr entscheidet, ob der Schüler eine 1.0 oder eine 1.1 hatte, sondern ob er eine gute Note oder eine schlechte hatte. Gut könnte alles über 3.0 sein. Schärfere Abstufungen wären verboten. Wer wirklich glaubt, dass Abiturnoten grob etwas aussagen, der sollte damit zufrieden sein. Und entschärft trotzdem den Wahnsinn der Bedeutung der Zehntelnoten. Das verhindert zudem, dass manche Studiengänge einen Notenschnitt fordern, der an einigen Schulen grundsätzlich unerreichbar ist Damit wäre zwar nicht alles toll – wenn jemand mit einer 3.1 ausgefiltert wird bliebe das ungerecht, es wäre immer noch Filtern nach bedeutungslosen Kriterien. Aber diese Ungerechtigkeit scheint einer gewissen Klientel deutscher Bürger am Herzen zu liegen. Und es wäre immerhin ein bisschen besser.