Divinity: Original Sin 2 ähnelt dem Vorgänger sehr, macht aber vieles besser. Vom Genre her ist es wieder ein klassisches Rollenspiel mit Draufsichtperspektive, aber das Abschleifen der Kanten und die größere Dichte dieses Abenteuers rücken es viel stärker in die Nähe von Baldur's Gate 2 und anderen Genregrößen.
Als Quellenmagier gejagt
In Rivellon werden alle von der Quelle befähigten Magier zusammengetrieben. Einer davon ist der anfangs erstelle Charakter, wobei alternativ auch ein vorgefertigter Charakter ausgewählt und angepasst werden kann. Die verbliebenen Vorlagen sind dann als NPCs mit auf dem Schiff, das zu einer Gefängnisinsel reist, und können sehr schnell als Gruppenmitglieder rekrutiert werden.
Einerseits sind die Fähigkeiten dieser Charaktere stark anpassbar, ihre Startkonfiguration kann sogar im Gespräch gewählt werden. Andererseits sind ihre Hintergrundgeschichten detailliert ausgebaut. Dabei sind sie allesamt keine ganz klassischen Figuren. Diese Hintergründe werden im Spiel dann auch noch wunderbar mit der eigentlichen Geschichte verwoben. So wie bei Lohse, einer von einem Dämon besessenen Bardin, deren Freiheitskampf bis zum Finale eine Rolle spielen kann.
Aber erstmal landet die Gruppe auf der Gefängnisinsel, natürlich nicht ohne Zwischenfälle. Und dort öffnet sich dann direkt das Spiel. Es gibt ein klares Ziel, aber viele Wege dorthin zu kommen und entsprechend viele Verhaltensmöglichkeiten. Je nach erschaffenem Charakter (und je nachdem, welcher der Charaktere das Gespräch führt) stehen auch immer wieder andere Wege offen. So sieht nur ein Gelehrter Nutzungsmöglichkeiten in einem bestimmten Buch, oder kann nach ein paar entsprechenden Taten ein Ruf als Held gewonnen werden, was dann neue Antwortmöglichkeiten eröffnet. Natürlich ist auch ein Ruf als Bösewicht eine Möglichkeit, wobei ich nicht selbst getestet habe wieweit sich das Spiel in diese Richtung drehen lässt.
Auch die folgenden Gebiete funktionieren so – sie sind alle offene Karten, in denen die Gegnerschwierigkeit die Begrenzungen setzen und es (gerade für den Hauptquest) immer mehrere Optionen gibt. Und vorher getroffene Entscheidungen haben oft Folgeauswirkungen, auch über den jeweiligen Akt hinweg.
Überraschend harte Kämpfe
Bei aller Freiheit: Die Rundenkämpfe werden in jedem Fall einen großen Teil des Spiels ausmachen. In ihnen spielen wieder die Elemente durchaus eine Rolle, sodass Öllachen durch Feuer in Brand gesteckt werden können usw. Es gibt nun zudem eine physische und eine magische Rüstungsleiste, sodass die Konzentration der jeweiligen Schadensarten als Taktikkomponente hinzukommt. Die Charaktere (und Gegner) haben mehr Fähigkeiten als im Vorgänger, entsprechend lang ist die MMO-artige Fähigkeitenleiste unten.
Bei den Kämpfen überraschte mich ihr Schwierigkeitsgrad. Ziemlich früh waren viele der erreichbaren Gegner unbesiegbar und es brauchte einiges an Suchen, um gewinnbare Kämpfe zu finden und so langsam aufzuleveln. Das wurde auch im späteren Spielverlauf nicht besser, legten doch gerade im vierten Gebiet die Gegner (und ihr geschickter Einsatz von Fähigkeiten) nochmal eine Stufe zu. Vielleicht fand ich einfach nicht die beste Kombination, doch grundsätzlich erschien mir meine Gruppenzusammenstellung vernünftig und effizient. Und mit dem kürzlich durchgespielten Vorgänger war das Spielsystem eigentlich vertraut.
Aber wenigstens war das anders als im Vorgänger, bei dem einzelne Kämpfe ungewollt schwierig erschienen. Hier war das Niveau ziemlich konsistent, nur eben konsistent hoch.
Inszenierung und Humor
Wie das Spiel sich präsentiert, da allerdings hat sich ein bisschen was getan. So sieht alles etwas hübscher aus. Inklusive dem wichtigen Inventar, bei dem jetzt endlich die Charaktere in groß angezeigt werden. Aber auch in der Spielwelt selbst sind sie und ihre Ausrüstung jetzt noch mehr wahrnehmbar.
Wieder gibt es das Problem, dass Gespräche der NPCs sich wiederholen und endlos abgespult werden. Aber es ist etwas entschärft, es gibt wohl weniger davon und die Pausen zwischendrin sind länger. Das macht es erträglicher.
Einfacher zu folgen ist auch die Hauptstory. War im ersten Teil gerade anfangs überhaupt nicht klar, was passiert und wer da handelt, und wurde zudem mit einer Taschendimension die Story immer wieder aufgehalten, ist die Geschichte des zweiten Teils von Beginn an wesentlich klarer. Und trotzdem erweitert sie sich im Spielverlauf, wird die Rolle der Spielfigur immer wichtiger und die große Handlung epischer. Allerdings, da ist kein Jon Irenicus, einen Oberbösen nicht nur indirekt zu zeichnen vernachlässigt DOS2 sträflich. Immerhin gibt es aber genug Motivation, um sich dem Bösen in den Weg stellen und die Welt retten zu wollen, nur funktioniert das mehr über die generelle Situation als über eine klare persönliche Motivation wie in Baldur's Gate 2, Witcher 3 oder gar Cyberpunk 2077, das in dieser Hinsicht in einer ganz anderen Liga spielt.
Larians Spielen wird als ihr eigenes Ding dagegen oft ein eingebauter Humor attestiert, manchmal negativ bewertet, da er für manche nicht immersionsfördernd sei. Davon habe ich diesmal nicht viel mitgekriegt. Einige Gespräche sind immer noch etwas abseitig, das sind aber besonders die mit Tieren, was komplett optional ist. Und es gibt ein paar Witze, wie dass ein Heiltrank aus einem Gifttrank und rotem Färbemittel gebraut werden kann. Aber da war nichts, was mich auch nur ansatzweise aus dem Spiel gerissen hätte. Vielmehr überwiegt an der Stelle, dass dieses Craftingsystem keine Skillpunkte mehr braucht und daher viel einfacher genutzt werden kann (was noch mehr gälte, wenn die Rezepte im Craftingmenü die erschaffbaren Gegenstände beschreiben und ihre Werte anzeigen würden…).
Vom Ton her wirkte das Ganze sogar eher ziemlich erwachsen, nicht nur durch die Thematisierung von Tod und Genozid, sondern auch bezüglich Sex – wo der Vorgänger die eine mögliche Sexszene noch durch absurdistischen Humor verstellte, wird diesmal mindestens eine überraschend ausführlich beschrieben. Noch kein Mass Effect (und wohl BG3), weil es keine grafische Inszenierung gibt, aber eben auch kein störendes Kleinkindverhalten mehr.
Was macht es so viel besser?
Also, fordernde Kämpfe, ausgebautere Mechaniken auf allen Ebenen und eine verständlichere, packendere Story – deswegen also ist das Spiel so viel besser? Mehr noch ist es die Verdichtung, dem speziellen narrativen Design des Studios folgend, das mir Anna Guxens von Larian im Interview erklärt hatte und die in diesem Spiel deutlich zu bemerken ist. So gibt es eine Hauptmission, drei Trainer zu finden – aber dann sind direkt sechs oder mehr Trainer verfügbar, und jeder von denen hat seine eigenen Missionen um sich herumgestrickt, und dann gibt es wieder andere NPCs, die beispielsweise einem der Trainer nichts gutes wollen oder ist die mögliche Unterstützung der Trainer an ethische Entscheidungen geknüpft, während gleichzeitig für ihre Missionen auch immer wieder alternative Lösungsmöglichkeiten gibt. Und genau dadurch wird das Spiel toll, weil das Handeln in einer solchen Welt sich wirkmächtig anfühlt und das Spiel auf die getroffenen Entscheidungen (fast) immer angemessen reagiert. Dieses Design ermöglicht einfach gutes Rollenspiel, gerade zusammen mit den Auswirkungen des gebauten eigenen Charakters und seinen Eigenschaften.
Dazu kommt das Charakterbausystem, das einige Freiheiten bietet und mehrere validen Gruppenzusammenstellungen zulässt. So können die Fähigkeiten frei kombiniert werden, z.B. der Nahkämpfer auch Feuermagie wirken – wobei diese Kombination wegen dem Einfluss der Charakterattribute (Stärke + Konstitution vs Intelligenz + Gedächtnis zu brauchen) nicht unbedingt ideal ist. Aber es geht eben, und einiges passt auch sehr gut zusammen, wie Kriegsführung und Gestaltswandlung.
Schwächen
Wie immer von mir unter Linux gespielt, funktionierte Divinity: Original Sin 2 unter Proton technisch nicht perfekt. So stürzte das Spiel beim Neuladen gerne mal ab (war ansonsten aber stabil) und die Ladezeiten waren auch ziemlich lang. Andere Fehler im Spiel hingen nicht an Proton, so wie ein durch eine Mission ausgelöster Kampf, der einen ganz anderen nahestehenden Questgeber – wohl nachträglich in der Definitive Edition hinzugefügt – aggressiv schaltete und so dessen Geschichte blockiert, umgeht man das Problem nicht durch einen Trick.
Während das Fähigkeitensystem und die Perks einige verschiedene Rollen ermöglichen, überraschte mich die begrenzte Auswahl für einen defensiven Kämpfer. Es war zwar möglich, Konstitution zu erhöhen und ein Schild auszurüsten, aber viel mehr passende Fähigkeiten gab es nicht. Und ironischerweise wurde dieser Kämpfer dann zu meinem besten Schadensausteiler, unter anderem wegen einem mit dem Rüstungswert des Schildes skalierenden Schildwurf.
Überrascht haben mich auch manche Schwächen bei den Rätseln. Da waren wieder manche lösbar und interessant, andere blieben mir unverständlich. Insbesondere gegen Ende ein Raum voller Schalter, bei denen die Anfangsbuchstaben der zu ziehenden Schalter zusammen Power ergeben müssen, was aber kein Hinweis im Spiel auch nur andeutete. Ähnlich waren nicht immer alle Lösungsmöglichkeiten für Aufgaben umsetzbar; beispielsweise konnte einmal einer Zielperson eine präparierte Mahlzeit übergeben werden, sodass er zur Toilette rennen muss und man ihn dort im Kampf abseits der Wachen stellen kann, aber das naheliegendere direkte Vergiften der Mahlzeit war nicht möglich. Naja.
Erstaunt war ich auch von der geringen Verbindung zur Geschichte des Vorgängers. Es gibt ein paar willkommene, direkte Verweise, aber lange war mir nicht mal klar, ob die Handlung vor oder nach den Geschehnissen des vorherigen Teils spielt. Unklar blieb mir auch, gerade zu Beginn, ob es eine gute Wahl sein würde einen eigenen Charakter zu erschaffen oder einen der vorgefertigten zu spielen. Einerseits könnte man so dessen ausgebaute Geschichte direkter erleben, aber verpasst ihn eben auch als kommentierenden Gefährten. Und während das Internet zum Spielen ein vorgefertigten Charakters riet, und das auch tatsächlich durch die erlebbare Zusatzgeschichte nicht schlecht war, verweigerte das Outro dann die Auflösung dessen Schicksals.
Unsicher bin ich mir bei dem Balancing. So sind bei Händler kaufbare Ausrüstungsgegenstände an das eigene Level gekoppelt, auch was gefunden wird rangiert ums eigene Level (auch weil höherlevelige Gegner normalerweise nicht besiegbar sind), nur selten sind Gegenstände über dem eigenen Level findbar. Das funktioniert auf der einen Seite gut, weil es mit Levelaufstiegen eine klare Progressionsmöglichkeit zeigt. Aber wäre es nicht schöner gewesen, wenn Waffen und Rüstungen statt zum Level zum Gebiet passen, entsprechend der Spieler hier ein paar weitere Möglichkeiten zur innovativen Charakterstärkung hätte?
Schließlich ist die Inszenierung ohne Zweifel anzukreiden. Erstmal sieht die Grafik nicht schlecht aus, aber auch nicht umwerfend. Vor allem aber macht das Spiel mit der Grafik wenig, gibt es zum Beispiel nur selten mal eine Kamerafahrt, um etwas zu inszenieren, und schon gar nicht das Ausspielen von Gesprächen. Das grafische Highlight ist das im Inventar sichtbare Aussehen der Charaktere, einzelne große Bossgegner und manche Effekte. Das ist besser als im Vorgänger und als in Klassikern wie BG2, aber noch ein ganzes Stück hinter den späteren Rollenspielen von Bioware, gänzlich ohne den stärkeren Inszenierungsansätzen von beispielsweise Wasteland 3.
Insgesamt ist Divinity: Original Sin 2 trotz der aufgelisteten Schwächen ein hervorragendes Rollenspiel geworden. Es ist sogar auf einer Ebene mit den Genregrößen, schwächer in manchen Teilaspekten als die klassischen RPGs, aber stärker in anderen. Vor allem aber ist das Spiel so stark verbessert zum auch schon guten Vorgänger, dass ich die Steigerung im nächsten Teil nun unbedingt erleben will – nämlich Baldur's Gate 3, dessen tolle Bewertungen nach diesem Erlebnis kaum noch überraschen.
Danke an Thomas für das Spiel und den Reviewwunsch! Seine detailliertere Beschreibung des Spiels sei an dieser Stelle empfohlen.