Ich möchte diesen Blog nicht in einen Babyblog umwandeln, aber ein paar Sachen müssen hier rein bevor ich sie vergesse. Diesmal eine Beobachtung, die bei der Recherche vor der Geburt bei mir für viel Unsicherheit gesorgt hat: Der in Deutschland existierende Fokus auf die natürliche Geburt und Ernährung ist seltsam! In anderen Ländern ist das anders. Gerade Frauen kann der deutsche Weg schaden.
Geburt vs Kaiserschnitt
In Deutschland wurde uns sehr deutlich gemacht, dass die natürliche Geburt der einzig richtige Weg sei. Im (ansonsten gar nicht schlechten) Geburtsvorbereitungskurs wurde von der Hebamme unmissverständlich der Standpunkt vertreten, dass die Geburt ganz toll sei, sie nahezu allen Frauen gelinge, der Prozess beherrschbar sei. Diese angebliche Beherrschbarkeit findet sich im deutschen Denken sogar bei der Schmerzmittelgabe wieder: Mehrfach wurde mir erzählt, dass bei der Geburt trotz Wunsch keine Mittel gegen die Schmerzen gegeben wurden, die Hebamme dazu aufrief, ohne durchzuhalten. Mag nicht die absolute Regel sein, aber dazu passt die geringe Zeit, die im Geburtsvorbeitungskurs über Schmerzmittel geredet wurde: Nämlich nur auf Nachfrage, und dann ganz kurz. Alles folgt der Maxime: Die Geburt sei sicher und Frauen könnten das, so natürlich wie möglich sei die beste Option. Entsprechend wird eine nicht funktionierende natürliche Geburt dann als individuelles Scheitern wahrgenommen, wie ich bei mehreren Müttern schon beobachten musste.
Das Nichtbesprechen der Folgeschäden und Schmerzmittel mag teilweise Beruhigungstherapie gewesen sein. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema und den Optionen war es aber nicht.
Auch bei den Ärzten war die natürliche Geburt gesetzt. Das ging so weit, dass bei einem Vorgespräch ein Arzt im Krankenhaus behauptete, einen Kaiserschnitt ohne medizinischen Grund würden sie überhaupt nicht machen, das verstoße gegen den Grundsatz der Schadensvermeidung (also dem hippokratischen Eid). Wenn das Baby sich also noch drehen sollte würde der Kaiserschnitt gezwungenermaßen wieder abgesagt, wir hätten da gar kein Mitspracherecht.
Dann liest man da etwas nach und stellt fest: Das stimmt so beides nicht.
Zuerst einmal sind natürliche Geburten relativ riskant. Damit meine ich nicht nur, dass insbesondere abhängig der Lage das Baby dabei sterben kann – das ist im System bekannt, auch wenn unsere Frauenärztin sich immer noch genötigt sah uns einzuschärfen, uns angesichts der Beckenendlage nur ja nicht trotzdem zu einer natürlichen Geburt überreden zu lassen. Das muss also vorkommen (tatsächlich listet die AOK es als Option). Nein, neben den Schmerzen und dem Risiko für das Kind sind die Folgeschäden für die Frau das Problem. Doch die werden in Deutschland gar nicht richtig erfasst, man weiß nur, dass sie häufig sind. Im Spektrum der Wissenschaft gab es einen erschreckenden Artikel dazu. Demnach wird nichtmal die Sterblichkeitsrate der beiden Geburtmodi richtig erfasst. Und zu den Folgeschäden – da geht es insbesondere um Inkontinenz – heißt es:
In Deutschland gebe es keine etablierten Standards zur Erfassung von Beckenbodenbeschwerden nach der Geburt, erläutert Sebastian Ludwig, Leiter des Kontinenz- und Beckenbodenzentrums an der Frauenklinik der Universität zu Köln. Die Frauen müssten sich selbst melden. Doch das tue laut einer Onlineumfrage nur eine Minderheit.
Ohne solche Daten können Ärzte aber über die Risiken gar nicht richtig aufklären. Weil sie sie selbst nicht kennen.
Und das mit dem unmöglichen Wunschkaiserschnitt? Glatt gelogen. So schreibt stattdessen die Barmer:
Möchte eine Schwangere dann trotz eingehender Beratung weiterhin einen Kaiserschnitt, so wird dieser in der Regel auch durchgeführt. Der Wunsch der schwangeren Frau ist in diesem Fall entscheidend.
Dass das in einem Artikel steht, der ansonsten heftigst für die natürliche Geburt wirbt, ist dabei ein perfektes Beispiel für die Situation in Deutschland. Die Frau hat auf dem Papier die Wahl, in Wirklichkeit muss sie für eine Wahlmöglichkeit gegen das System kämpfen. Wobei der Fairness halber hier erwähnt sei, dass ein anderer Arzt im gleichen Krankenhaus unabhängig von der Lage wegen der Maße zum Kaiserschnitt riet, mit seiner Hilfe wäre das also bei uns so oder so gegangen. Und auch erwähnt gehört: Natürlich könnte das in anderen Regionen Deutschlands als der meinen etwas anders sein (wobei ich dafür bisher keine Hinweise fand).
In einigen anderen Ländern ist das völlig anders. Da entscheiden Frauen frei und weit im voraus, ob sie eine natürliche Geburt versuchen wollen oder direkt einen Kaiserschnitttermin ausmachen. Ich kann nicht sagen, ob Deutschlands so ganz andere Handhabe da einzigartig ist, aber sie ist auf jeden Fall nicht universell verbreitet.
Stillen vs Flasche
Einen ähnlichen, wenn auch weniger gravierenden, Natürlichkeitsfokus konnte ich beim Thema der Ernährung beobachten. Hier ist Stillen die natürliche Option und deswegen gesetzt. Literatur wie Hebammen stehen auf dem Standpunkt, dass Frauen das fast immer gelingen kann, man dürfe nur nicht zu schnell aufgeben. Und dabei werden die Gesundheitsvorteile für das Baby stark betont.
Nun ist es beim Thema Stillen so, dass die Grundeinstellung korrekt ist. Stillen ist allen Datenlagen nach wirklich gesünder für das Baby, daran gibt es – anders als bei der Abwägung von natürlicher Geburt und Kaiserschnitt – keinen Zweifel. Nur: Das bedeutet eben nicht, dass die Flasche mit Milchpulverlösung nicht trotzdem gegeben werden sollte.
Denn erstens sehe ich überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass die Mutter tatsächlich immer ausreichend Milch produziert. Dann nicht per Flasche nachzuhelfen führt nur zu vor Hunger schreienden Babys, die per ausländischem Blick in Deutschland erstaunlich verbreitet sind. Ein Hinweis darauf ist auch, dass nur 57% der Mütter nach zwei Monaten noch stillen, obwohl 90% vor der Geburt das Stillen planten (Quelle).
Zweitens ist das Gewöhnen des Babys an die Flasche super wichtig. Sicherheit wenn die Muttermilch ausbleibt ist da noch der kleinere Grund. Der wichtigere, dass so der Vater auch das Baby versorgen kann, z.B. wenn die Mutter früh wieder arbeiten gehen will. Das mag in Deutschland ungewöhnlich sein, ist 2024 aber wohl kaum eine absurde Vorstellung.
Stattdessen wird gegen die Mischung gewarnt. Das könne die Brust verwirren, die doch sonst immer genau so viel Milch herstellt wie das Baby braucht, wird ernsthaft mit Gewissheit behauptet. Belege dafür sah ich keine. Im Gegensatz dazu kenne ich die Mischung von Stillen und Pulvernahrung aus anderen Ländern, und habe nichts von Problemen gehört.
Dass die Mischung so schwierig ist wie uns hier erzählt wurde ist mir nicht schlüssig. So ist doch im Gegenteil eher stark anzuzweifeln, dass die natürliche Milchproduktion tatsächlich immer genau so skaliert wie postuliert wird, eine im Zweifel zu geringe Produktion ist wahrscheinlicher. Warum auch nicht? Die Evolution würde nur fürs statistisch ausreichend häufige Überleben sorgen, nicht für Komfort, und auch verhungernde Babys wären in einer natürlichen Lebensweise sicher ganz normal. Dann wäre die Zwiemilchernährung eine große Hilfe und längst nicht so absurd, wie das hier im Vorfeld zwischendurch klang.
Natürlich hat der Kaiserschnitt seine eigenen Risiken (haben wir leider sogar selbst erlebt), und dass Stillen an sich wirklich gut funktionieren kann ist auch klar (und ebenfalls selbst erlebt worden). Und auch wenn das oben vll anders klingt, haben wir tolle Hebammen und Ärzte kennengelernt, die trotz der oft durchscheinenden Prägung in vielen Bereichen sehr geholfen haben. Aber dieser in Deutschland so starke Glaube an die Natur bei allem, was mit Geburt und Babys zu tun hat, ist dennoch erstaunlich.
Und die Existenz dieser speziellen deutschen kulturellen Eigenheit des Naturglaubens ist etwas, dem man sich durchaus bewusst sein sollte, wenn man hier im System steckt. Denn entsprechend sind viele Interaktionen mit Ärzten, Krankenhaus und Hebammen eingefärbt. Es ist an einem selbst, diese existierende lokale Lehrmeinung bei erhaltenen Ratschlägen einzupreisen und entsprechend gegebenenfalls abweichende Entscheidungen zu treffen.