Kingdom Come: Deliverance ist keineswegs die Mittelaltersimulation, als die es teilweise beschrieben wurde. Davon hat es nur ein paar Ansätze. Stattdessen ist es eine konzeptionell großartige Mischung aus Gothic und The Elder Scrolls – vielleicht mehr Oblivion als Skyrim? – mit ein paar letztendlich harmlosen Schwachpunkten bei der Umsetzung.
Böhmen, 1403
Du spielst Henry, Sohn eines Schmiedes. Zu Spielbeginn wird sein Dorf von einer großen Armee gestürmt, nur haarscharf entkommt er dem Massaker. Zuerst gestrandet nicht weitab, folgt die in Quests aufgeteilte Handlung seiner neuen Existenz in der ihm nun offenen Mittelalterwelt.
Diese Welt ist voller Bezüge zu echten historischen Ereignissen, Charakteren und Eigenheiten. Dabei ist die Darstellung der damaligen Gesellschaft wohl nicht perfekt akkurat, aber sie vermittelt doch ein viel geerdeteres Gefühl als die Fantasywelten anderer Rollenspiele. Hier wird man keine Magier, keine Geister finden – außer als Teil der wiedergegebenen Sagenwelt. Stattdessen knurrt nach einer Weile der Magen und sinkt das Energielevel, sodass man Essen und ein Bett suchen sollte. Und wirkt es passender, das Spiel angesichts des Handlungsortes auf Deutsch zu spielen (zumindest eher als Englisch).
Henry kann am Anfang fast nichts. Ganz am Anfang darf man ein paar Punkte verteilen, doch stehen die Regler überall auf fast null. Und das schlägt voll durch: Fast jeder ist stärker als man selbst, eine brauchbare Ausrüstung bekommt man auch nicht einfach gestellt. Die muss man sich ergattern. Und mit ihr langsam die Fähigkeiten Henrys steigern. Also insbesondere die Kampffähigkeit, zusätzlich der Umgang mit den vier Waffengattungen Schwert, Axt, Bogen und Streitkolben. Aber auch die körperlichen Attribute, wie Agilität und Stärke, wobei man ohne entsprechende Werte mit besseren Waffen nichts ausrichten kann.
Skyrim, Gothic…
Gesteigert werden die Fähigkeiten durch Benutzung. Wer also mit einem Schwert auf Banditen einschlägt, wird in Kampf, Schwert und Stärke Fortschritte erzielen. Das ist eine der Anleihen an The Elder Scrolls. Die andere ist die Egoperspektive und wie in ihr die Waffen gehalten werden, auch das Inventar mit in wenige Kategorien unterteilte Listen ist gar nicht so unähnlich – der gemoddeten brauchbaren Variante natürlich, nicht dem schrottigen Originalinventar. Am gravierendsten ist aber die Ähnlichkeit in der Spielweise: Henry kann verschiedenes, neben Kämpfen natürlich auch Sprechen, aber auch Diebesfähigkeiten wie Taschendiebstahl und Schlösserknacken. Und das alles kann dann relativ frei benutzt werden, um die Aufgaben zu erledigen. Das ähnelt bei der Questausgestaltung teils sogar mehr noch den freieren 3D-Fallouts als dem oft sehr kampflastigen Skyrim, wobei auch KCD absolut nicht ohne Kämpfe bestreitbar ist.
Es ähnelt sogar Gothic bzw der moderneren Inkarnation Elex, wenn verschiedene Lösungen angeboten werden und in den Gesprächen wählbar sind oder Entscheidungen anstehen, wie wenn verschiedene Auftraggeber um die Gunst des Spielers buhlen. Der klarere Gothiceinfluss ist aber der Start als Waschlappen, bei später erreichbarem hohem Stärkegrad, was ein toller Kontrast ist. Befördert dadurch, dass keinerlei Autoskalierung bei der Gegnerstärke spürbar ist, schwache Gegner bleiben also erhalten und viele sind anfangs unbesiegbar. Gothic atmet aber auch die Weltausgestaltung, die Tagesabläufe der Charakter mit ihren vielen Aktivitäten (wie einem abendlichen Gang zur Gaststätte mancher Bürger), und die interaktiven Objekte; wie die Bänke, auf die Henry sich setzen kann oder den Schleifstein, mit dem er in Schmieden sein Schwert schärft.
Wie bei Gothic geschickt gelöst ist auch die Verteilung der Nebenmissionen. Die werden nämlich erst nach und nach im Handlungsverlauf freigeschaltet, Questgeber findet man meist auch nur entweder zufällig oder indem man in den Orten den Wirt fragt, ob etwas ansteht. Dadurch beschränkt sich die Handlung selbst dann nicht irgendwann auf die Hauptstory, wenn man jeden anderen Quest vorher lösen will.
…und Eigenes
Teil der Mischung sind eigene Elemente, die ich nicht einem klaren Vorbild zuordnen konnte.
So lässt das Spiel kein freies Speichern zu. Gespeichert wird optional beim Beenden des Spiels, nach dem Schlafen in Betten, manchmal automatisch im Spielverlauf wie bei erledigten Quests – oder durch Trinken eines Retterschnaps. Dieser Schnaps wird gekauft und manchmal gefunden, oder kann an einem Alchemietisch (mit nicht ganz häufigen Zutaten) gebraut werden.
Speziell ist auch das Kampfsystem: Schläge werden je nach Mausausrichtung von verschiedenen Winkeln aus angebracht, hält der Gegner die Waffe im gleichen Winkel wird er blocken. Das macht Kämpfe sehr viel langwieriger, wobei Henry auch noch wichtige Fähigkeiten wie das effektive Blocken zu Beginn nicht beherrscht.
Auch das Ausrüstungssystem habe ich so noch nicht gesehen. Es ähnelt etwas dem von Cyberpunk 2077, da auch dort Kleidung übereinander getragen werden kann. Hier aber, bei einem vorher erschienenen Spiel, ist das viel ausführlicher umgesetzt, wenn z.B. alleine am Kopf vier Slots im Ausrüstungsbildschirm sind. Natürlich wird das dann auch noch ordentlich an Henrys Körper gezeigt, beispielsweise wenn die Kettenglieder einer Kopfhaube unter einem Hut zu sehen sind. Die Rüstung und Kleidung hat nicht nur Verteidigungswerte, sondern beeinflusst auch die Sichtbarkeit und wie auffällig Henry anderen erscheint, außerdem als wie charmant oder gefährlich er wahrgenommen wird. Das wiederum hat Einfluss auf Gespräche, nicht nur auf Überzeugungsversuche, sondern angenehmerweise auch auf die Art der Begrüßung – erst mit entsprechender hochwertiger Kleidung wird man ein "Seid gegrüßt, edler Ritter" hören.
Und natürlich: Die Verortung im Mittelalter statt einer Fantasywelt ist etwas seltenes, sich auch noch auf einen konkreten Zeitpunkt und historischen Ort zu beziehen (statt ihn nur als grobe Inspiration zu nehmen) ist meines Wissen einzigartig. Mindestens für diese Art Spiele.
Schwächen
Klingt soweit gut, oder? Das ist es auch. Aber KCD war das Erstlingswerk seines Studios und muss bei Release arge Macken gehabt haben. Manche davon sind immer noch da.
So sind einzelne Questreihen schlicht unfertig. Beispielsweise bekommt man in einer Nebenmission den Auftrag, eine Verkleidung als Kumane zu organisieren. Nur, um dann nie die vorab besprochenen Überfälle zu starten, für die die Verkleidung gedacht war. Oder ich erbeutete Geld für Freunde, traf die beiden danach aber nie wieder, am vermuteten Treffpunkt waren sie nicht.
Es gibt auch immer noch eindeutige Bugs. Gerade am Ende stolperte ich über sich widersprechende Gesprächsaussagen von Hauptpersonen und über einen Priester, der entgegen dem vorherigen Handlungsverlauf plötzlich mit mir verärgert war. Aber auch vorher schon passten manche Gesprächsoptionen nicht zur Realität im Spiel, wurde z.B. nicht berücksichtigt dass eine Aufgabe schon längst erledigt wurde.
Andere Schwachstellen sind nicht Bugs, sondern hängen an der Umsetzung. Ein solches Rollenspiel sollte beispielsweise eigentlich ohne Questmarker spielbar sein. Manchmal ginge das auch, sind die Beschreibungen ausreichend. Aber zu oft sind die Marker im Kompass bzw auf der Karte notwendig, ist völlig unklar wie Heinrich auf den richtigen Ort hätte kommen können. Das machte Morrowind vor über zwanzig Jahren besser.
Auch die immer wieder neu erscheinenden Gegner hätten so nicht umgesetzt werden sollen. Es ist das eine, wenn die Begegnungen mit Banditen etc beim Reisen sich wiederholen. Aber gar nicht gehen die neu erscheinenden Gegner in den Camps, nachdem man diese ausgehoben hat. Ist das doch sogar eine kleine Questreihe, bei der das Erledigen von Anführern in den Lagern der Befriedung des Gebietes dienen soll, was danach aber frustrierenderweise in der Spielwelt einfach keinen Effekt hat.
Das begrenzte Speichern kann auch frustrieren. Klar, es soll zum Hinnehmen von Fehlschlägen führen und zum Vermeiden von übertriebenem Risiko. Aber das kollidiert zu sehr mit dem häufigen Sterben, gerade anfangs. Umginge man die Begrenzung nicht (z.B. durch Speichern und Beenden samt sofortigem Neustart) müsste man viel zu viel Spielzeit wiederholen. Der Retterschnaps gibt dem Spiel zwar etwas eigenen Charakter, reguläres Schnellspeichern und Schnellladen würde KCD aber verbessern. Eine verwunderliche Entscheidung.
Angesichts der versuchten Authentizität bei der Weltdarstellung verwundert ebenfalls, dass der Spieler schnell zu sehr viel Geld kommen kann. Die Ausrüstung der Gegner ist einfach sehr viel wert, wer da etwas aufmerksam sammelt wird schnell reich. Die eigenen Bedürfnisse zu stillen kostet kaum Geld, ein Bett in der Herberge beispielsweise nur zwei Groschen, viel weniger als Beute selbst der schwächsten Gegner. Ansonsten frisst nur das Reparieren der eigenen Ausrüstung regelmäßig am Geldbeutel, was nur anfangs ein Problem ist. Eine Lösung hätte ich da auch nicht parat, aber beim Geldüberfluss bald wie die anderen Rollenspiele zu sein wirkt für die Welt nicht passend.
Die Kämpfe aber sind das größte Manko. Es ist viel zu schwer, in das Kampfsystem reinzukommen, und als Spieler hat man zu wenig Einflussmöglichkeiten. So gibt es eigentlich Kombos, aber die sind sehr schwer anzubringen, das notwendige Timing kaum zu treffen. Und wie soll man sie auch ausführen, wenn Gegner parieren und kontern können? Also wartet man lieber selbst auf Angriffe und pariert die, in der Hoffnung gleichzeitig einen Gegenangriff auszuführen, manuell oder automatisch nach der Parade – was man auch nur an einer einzigen Stelle im Spiel lernen kann, leicht verpassbar.
Das ist nicht gerade flott. Immerhin hat das ganze den Effekt, dass die Ausrüstung einen großen Einfluss hat, was bei Ritterrüstungen passend erscheint. Aber trotzdem ist das Kampfsystem so insgesamt nicht gelungen.
Kingdom Come: Deliverance ist eines dieser Spiele, bei dem ich hier beim Aufschreiben viel zu kritisieren habe, was aber völlig den Eindruck verfälscht. Denn allen Mankos zum Trotz fand ich es großartig. Die Mischung aus Gothic und Skyrim funktioniert sehr gut, die Konzeptmischung ist für Rollenspielfans glatt Traumerfüllung, unkitschiger kann ich es nicht ausdrücken. Dass die Kämpfe etwas sperrig sind, Questmarker und -verläufe manchmal etwas verbuggt wirken, Gegner unglaubwürdigerweise neu erscheinen usw. – das ist zwar alles nicht super, aber es macht das Spiel letztendlich nicht kaputt, es bleibt toll. Denn die Schwachstellen ändern nichts daran, wie gut die Welt gebaut ist und die Rollenspielsysteme funktionieren. Wie hervorragend insbesondere das Fortschrittsgefühl ist überwiegt, wenn ich später auf einem Schlachtross die Strecke entlangfliege, der ich bei Spielbeginn überladen zu Fuß folgte und bei der mich eine Begegnung mit aufgebrachten Bauern das Leben kostete, die ich jetzt wegfegen würde. Und dann sieht das ganze auch noch gut aus, ist KCD eines der seltenen Spiele der CryEngine und entsprechend hübsch.
Ich kann mir daher gut vorstellen, dass die positiven Reviews des kürzlich erschienenen zweiten Teils berechtigt sind. Wenn bei diesem Konzept nun die Schwachstellen etwas ausgebessert wurden, muss das Ergebnis überzeugen. Wobei für mich auch der erste Teil schon sehr gut funktionierte.