"Sind bürgerliche Freiheiten und sozialistischer Anspruch nicht schon theoretisch ideologisch unvereinbar?"
Saturday, 20. September 2008
Berechtigte Frage, die Timo in seinem Blog in Bezug auf Venezuela stellt. Der Versuch einer Antwort folgt.
Zuerst einmal die spezifische Situation. Hier muss festgehalten werden, dass es wohl der amerikanische Putschversuch war, der dazu geführt hat, dass z.B. die Lizenz der am Putsch beteiligten Sender nicht verlängert wurde. Also gut: Hier kann man nun "Pressefreiheit!" schreien. Oder sich vorstellen, was hier passieren würde, wenn Pro 7 dazu aufrufen würde, die Bundesregierung gewaltsam zu stürzen...
Es scheint eine historische Konstante zu sein: Linke Länder mit relativen Freiheiten, wie theoretisch die Sovjetunion am Anfang, geraten im Laufe des Konfliktes mit dem Westen in die Situation, (bürgerliche) Freiheiten massiv beschränken zu müssen. Ist es denn nun wirklich so, dass schon der "sozialistische Anspruch" in Venezuela dort Freiheiten bedroht?
Dafür wäre zu klären, inwiefern der Anspruch in Venezuela ein sozialistischer Anspruch ist - und in welchem Sinne sozialistisch. Welche Ziele hat sich Venezuela denn seiner Ideologie folgend auf die Fahnen geschrieben? Wikipedia sagt:
..., seine (Chavez) erklärten Ziele sind der Kampf gegen Korruption, die Schaffung und Stärkung möglichst direkter Demokratie, sowie die nationale und ökonomische Unabhängigkeit.
Und hier muss man ganz klar sagen: Nein, solche Ziele sind mit bürgerlichen Freiheiten vereinbar. Direkte Demokratie könnte man sogar als Ausweitung bürgerlicher Freiheiten ansehen.
Und der ideologische sozialistische Anspruch an sich? Hier müsste man betrachten, ob diese Ideologie
a) als Sozialismus vorhanden ist
b) dazu führt, dass bestimmte Methoden genutzt werden
wobei bei b) dann der Knackpunkt wäre, ob diese Methoden freiheitsbeschränkend wirken.
Zu a): Chavez ist ein Vertreter der Bolivarischen Revolution. Das wird zwar als "Sozialismus im 21. Jahrhundert" bezeichnet, muss aber von anderen sozialistisch benannten Strömungen abgegrenzt werden. So stimmen zwar Grundwerte wie "gerechte Verteilung der umfangreichen Erdöleinnahmen" mit "einer sozial gerechten Wirtschaftsordnung" (wieder Wikpedia) auf dem Papier überein. Es muss hier aber vergegenwärtigt werden, dass in der speziellen Situation der ausgebeuteten südamerikanischen Ländern dies erstmal nur bedeutet, dass die Ölreserven nicht einzig US-amerikanischen Ölkonzernen zugute kommen. Mit dem Realsozialismus der Planwirtschaft kann eine Gemeinsamkeit eintreten - muss aber nicht, nicht ausgehend von diesen Zielen. Eine Stärkung nationaler Konzerne würde vollkommen ausreichen, um dieses Ziel zu erreichen - und die Methodik könnte trotzdem kapitalistisch bleiben.
Bezeichnend hierbei, dass Venezuela inzwischen schuldenfrei ist, was von einem im Sinne der DDR "sozialistischen" Staat insbesondere heutzutage wohl kaum erreicht werden könnte. Der Vollständigkeit halber muss hinzugefügt werden, dass Venezuela durchaus an planwirtschaftlichen Modellen arbeitet - allerdings
an dem Aufbau eines weltweiten Open-Source-Projekts für eine moderne computergestützte Planwirtschaft nach den mathematischen Modellen von dem (sic!) Informatiker Paul Cockshott und dem Wirtschafts-Professor Allin Cottrell.
Die mögliche Argumentation geht dann aber noch weiter, selbst wenn erste Gemeinsamkeiten verneint wurden. Bürgerliche Freiheiten werden beschränkt - also durch Enteignung die Möglichkeit der Wertakkumulation, Methoden der politischen Mitbestimmung gleich mit beschnitten? Nein, denn das letztere ist das bedeutende (wenn die Beschränkung der ersten Freiheit nicht Armut bedeutet), und in einem echt direktdemokratischen Staat wird diese zweite Freiheit gestärkt.
Dieser Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt, zur Abschaffung sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlicher Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen Beziehungen hervorgehen.
So bezeichnete Marx die Diktatur des Proletariats, und eine solche Klassendiktatur ist das System in Venezuela - theoretisch, und nach dem, was mir bisher bewusst ist - eben nicht.
Schon die Betrachtung von a) zeigt also, dass der ideologische Anspruch keiner ist, der dazu führt, dass früher auf "sozialistisch" genannte Staaten teils zutreffende Konzepte wie die "Diktatur des Proletariats" auch auf Venezuela zutreffen müssen.