Timo Krall am :
Die zentrale Frage ist, ob und für welche Fälle die NATO sich ein Recht darauf schaffen durfte außerhalb einer Verteidigungssituation militärische Operationen durchzuführen.
"Konzepte der "Vorwärtsverteidigung" gab es auch damals (im Kalten Krieg) schon - wie in der DDR und den restlichen Ostblockstaaten übrigens auch. Aber diese Selbstdefinition war angesichts des präsenten Feindes glaubwürdig und schaffte eine Daseinsberechtigung."
Kauft man das Argument der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen in den Händen von Staaten oder analog das Argument der Bedrohung durch schmutzige Bomben in den Händen von Terrornetzwerken, so kann man sich in einer ungleich vernetzeren Welt heute erneut auf eine Notwendigkeit zur "Vorwärtsverteidigung" berufen. Dies halte ich grundsätzlich nicht für abwegig; es ist unsinnig eine Gruppe von Menschen dazu verpflichten zu wollen ihrer (subjektiv) absehbaren Vernichtung durch ihre Feinde tatenlos zusehen zu müssen.
Den zweiten Fall einer herleitbaren Legitimität eines militärischen Eingreifens, den Schutz vor Gräuel, hast du bereits durch das Beispiel der Verhinderung des Völkermordes akzeptiert.
Unglücklicherweise lassen sich genau diese beiden Fälle, präventive Verteidigung und schützender Eingriff, mit entsprechendem Willen dazu zur Rechtfertigung nahezu jedes militärischen Eingriffes benutzen; das es neben dem Wunsch nach Verteidigung und / oder Schutz auch noch weitere Eigen-Interessen für einen Krieg geben könnte, tastet diese Rechtfertigung nicht an.
Die Authentizität einer Bedrohungslage durch Massenvernichtungswaffen wird ein normaler Bürger nie korrekt einschätzen können, ergo will ich nicht versuchen hierfür Kriterien zu formulieren; diplomatische Lösungen sind in jedem Falle strikt vorzuziehen und bis zum augenscheinlichen Höchstmaß der Möglichkeiten auszureizen, das sei als Minimum formuliert ....
Spannender ist die Bewertung von "Friedenssichernden Missionen", zu deren Zweck die NATO ausgebaut werden soll.
In Anbetracht der Tatsache, dass es weltweit vor Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen wimmelt mit denen westliche Staaten kooperieren (müssen) ist die Berufung auf eine Notwendigkeit zum schützenden Eingriff freilich diskreditiert. Offenbar sind die Verübung von Gräuel kein hinreichendes Kriterium für einen militärischen Eingriff und es sind für einen solchen folglich weitere Interessen ausschlaggebend.
Idealerweise sollte die Entscheidung für oder gegen einen als friedenssichernd bezeichneten Kampfeinsatz deshalb von einer Institution entschieden werden, in denen nicht nur eine sondern möglichst alle an diesem Konflikt beteiligten Interessengruppen entscheiden, ob der mutmaßliche Täter in seine Schranken verwiesen werden soll; andernfalls droht eine Selbstmandatierung nach dem Prinzip der Profitmaximierung der entscheidenden Interessengruppe.
Theoretisch müsste diese Institution im Rahmen der UNO geschaffen worden sein und deshalb deren und nur deren Mandate friedenssichernde Einsätze legitimieren. Leider ist jedoch auch und gerade die UNO keine Institution der Abwägung von Interessen im freien Diskurs und es ist denkbar, dass Vetomächte bestimmte objektiv notwendige Kampfeinsätze beispielsweise zur Verhinderung von Völkermord aus ihren Landesinteressen heraus verhindern.
Es ist schwer zu begründen, weshalb es für diesen Fall nicht möglich sein soll im Rahmen anderer Institutionen einen solchen Einsatz dennoch zu mandatieren. Worin ist die Legitimität eines Einsatzes begründet? Weil die UNO ihn so bewertet, oder weil bestimmte Kriterien zutreffen?
Wenn das zutreffen bestimmter Kriterien die Legitimationsgrundlage ist, so kann sich auch jede andere Institution auf diese Kriterien berufen (wobei dies sicherlich wiederum zu Willkür führen kann und von den Gruppen die eben diese Entscheidungen zuvor in der UNO blockiert haben auch als solche bezeichnen werden); wie auch immer, genau das tut die NATO meines Kenntisstandes nach.
Um die grundsätzliche Plausibilität dieses Vorgehens der NATO zu verdeutlichen hilft ein Vergleich mit der Ebene der individuellen Entscheidung: gerade wir aufgeklärte Bürger sind der Überzeugung, das Unrecht nicht zu Recht wird, nur weil eine offizielle Institution sie so nennt. Wir fühlen uns verpflichtet, die Entscheidungen von Institutionen mit unseren eigenen Maßstäben zu überprüfen bevor wir nach ihnen handeln, weil wir wissen, dass Institutionen aus Menschen bestehen und Menschen Interessen besitzen und fehlbar sind.
Verallgemeinert kann ich zu keiner definitiven Verurteilung einer Transformation der NATO kommen; zu hoffen ist, dass die Transformation in einer Weise geschieht, die Legitimation auf Basis von bewusster Falschinformation zwecks einer militärischen Interessendurchsetzung an den Prinzipien auf denen die UNO sich gegründet hat vorbei strukturell unwahrscheinlich macht.
Zusammenfassend kann ich der Fundamentalablehung einer nicht rein selbstverteidigenden NATO nicht zustimmen, dringe aber weiterhin auf eine genaue Analyse der konkreten Mandate zu Kampfeinsätzen.