"Bei uns ziehen eigentlich alle mit 18 aus" erzählte mir eine Kanadierin. Ich habe keine Möglichkeit das zu prüfen, aber mindestens in bestimmten Schichten wird das schon stimmen. Kann es sein, dass sich in Deutschland die Normalität verschoben hat? Dass nun wieder mehr Menschen ihr eigenes Leben im Heimatort beginnen und auch länger ganz zuhause wohnen bleiben als noch vor ein paar Jahren?
Nicht auszuziehen oder wenn, dann nur in die Wohnung unter die der Eltern im gleichen Haus, ist ein ganz anderer Schritt in das eigene Leben. Statt in einer fremden Stadt z.B. ein Studium zu versuchen oder sonst eine Ausbildung greifen die Zuhausebleiber primär auf das zurück, was schon da war: Die eigene Familie, die alten Schulfreunde, die lokalen Beziehungen, die eventuell auch im Beruf genutzt werden können.
Eigentlich ist es das alte Modell. Bei den Parteien ist es die Grundlage, die nicht mehr funktioniert, da Menschen mit diesem heimatverbundenen Lebensmodell fehlten, und eigentlich vor allem solche die klassische Parteienhierarchie durchlaufen können. Zumindest ist das eine übliche Erklärung für den Mitgliedermangel der etablierten Parteien.
Wahrscheinlich spielt in manchen Fällen auch das Geld eine Rolle. Man würde gerne ausziehen, sich ein einer anderen Stadt selbst eine Existenz aufbauen, kann es aber noch nicht alleine finanzieren und auch die Eltern wollen und können das nicht (mit-)tragen. Aber wahrscheinlich ist oft das Zögern vor diesem Schritt, das Nichtannehmen der wirklichen Selbstständigkeit, der größere Motivator für die Bindung an die alte Heimat.
Bestimmt gibt diese Bindung auch Kraft. Emotional zum einen, aber auch sonst: Verwandte sind eine finanzielle Stütze und auch eine organisatorische für das eigene Leben, wenn die Großeltern nicht mal eben auf die Kinder aufpassen können fehlt diese Option nunmal.
Aber es verwehrt auch die Erfahrung des Neuen. Neue Freunde, neue Orte, eine neue Selbstwahrnehmung - aus dem Schritt aus der Heimat heraus kann man potentiell so viel ziehen. Die gemachten Erfahrungen bestimmen den Blick auf die Welt und damit auch das eigene Denken. Wahrscheinlich befördert wenig die eigene Neuerfindung so sehr wie die erste echte eigene Wohnung außerhalb des Dunstkreises der Familie. Es ist dieses berühmte "Erwachsenwerden"; gehört dazu nicht der Aufbau des eigenen Ichs, erfordert das nicht fast das Leben fern von daheim, um sich selbst so überhaupt erst zu erkennen?
Schaden dürfte der Versuch in den seltensten Fällen.