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Keine verwandten Tags gefunden.Gedanken zum ersten Lebensjahr
Dass ein Baby aufwächst ist von außen trivial, wenn man es selbst miterlebt ist es ein absurdes Wunder. Vom kleinen Dingchen, das nur daliegt und gelegentlich schreit, über ein erstes (und oh so wichtiges) Anlächeln zum Kleinkind, das krabbelnd und brabbelnd die Welt erkundet. Ein paar ungeordnete Lektionen aus diesem ersten Jahr.
Babys sind Frauensache
Ich stelle immer wieder überrascht fest, wie wirklichkeitsfremd meine egalitäre Sichtweise war. Nein, Eltern teilen sich die Arbeit für das Baby überwiegend nicht zu gleichen Teilen. Der Mann arbeitet, die Frau bleibt daheim, das ist sowas von der Standard. Entsprechend war ich in der PeKip-Gruppe (sowas wie supersanfter Babysport mit Gesprächsanteil) der einzige Mann, in der Krabbelgruppe zuerst auch der einzige anwesende Vater, wobei dort immerhin (dadurch?) jetzt auch zwei andere Väter hinkommen.
Ich bin unfassbar froh, dass wir es anders machen konnten. Und ehrlich gesagt stolz, dass ich es konnte.
Überflussgesellschaft
Wenn es hier an irgendetwas nicht mangelt, dann ist es Babyzeug. Kleidung, Spielzeug, Babybett usw, was nicht umsonst ankommt kann gebraucht gekauft werden. Dabei wachsen die Babys so schnell, dass die Kleidung desöfteren noch ungetragen ist. Versucht man beim Kinderbasar Klamotten zu verkaufen kann man froh sein, wenn man auch nur ein paar los wird, auch die anderen Eltern schleppten vollste Körbe wieder mit heim.
Man kann sich nur anhalten, so wenig wie möglich neu zu kaufen. Dafür sind gut geordnete Märkte für gebrauchte Kinderkleidung wertvoll (der unsere entstammt der Frauengruppe einer evangelischen Gemeinde). Und wohl dem, in dessen Umfeld jemand anders bald ein Kind bekommt, an das Kleidung wie Spielzeug weitergegeben werden kann.
Kinderfeindliches Deutschland?
Wie kinderfeindlich Deutschland doch sei liest man oft und war mir eine Sorge. In vielen Aspekten haben wir das Gegenteil erlebt. Wie viele Menschen das Baby anlachen, wenn es sie anlacht. Dass in Bus und Bahn dem Kinderwagen Platz gemacht wird, sogar Busfahrer abwarten. In Restaurants das Baby mitzunehmen war bisher auch nie ein Problem, selbst wenn es natürlich auch mal weinte und schrie – fast immer gibt es auch passende Kinderstühle, ein deutliches Zeichen. Statt Sorge um Lärm zu äußern überhäuften uns Nachbarn mit geschenktem Babyzeug.
Auf anderer Ebene schlägt der befürchtete feindselige Geist aber durch. Zum einen die verflogene Zukunft beim vormaligen Arbeitgeber, was natürlich absolut nichts mit der anstehenden Elternzeit bzw Teilzeitarbeit zu tun hatte. Noch deutlicher der Elterngeldantrag – dessen absurde Ausgestaltung (Länge, Detailgrad, aber auch asozialerweise mehr Geld an höhere Einkommen zu geben) zeigt klar einen familienfeindlichen Geist.
Im Alltag aber, wie die Menschen um uns herum handeln, zeigt sich eine eben doch vorhandene große Kinderfreundlichkeit.
Die beste Anschaffung
Das uns von den Nachbarn zum Testen gegebene und dann verkaufte Tragetuch war ganz klar der beste Kauf. Ich dachte vorab, sowas bräuchte man erst später. Aber es war fast direkt fantastisch um das Baby zu beruhigen, es in den Schlaf zu wiegen wenn nichts anderes helfen wollte. Und ja, später als Alternative zum Kinderwagen war es auch gut.
Auch nett sind die im Dunkeln leuchtenden Schnuller. Und dieser Trinkbecher mit einer Silikonabdeckung (Magic Cup), mit dem das Kind schnell selbst trinken konnte. Beides Dinge, die ich gar nicht kannte.
Relativ unnötig für uns dagegen war das Beistellbett von Babybay, oben noch als Bank zu sehen. Da war mir nicht klar, wie schnell das zum Schlafen zu klein werden würde. Das später geholte größere und zum Kinderbett umbaubare Babybett hätte es auch direkt getan. Andere aber hatten mehr davon, die das Babybay auch tagsüber im Wohnzimmer als Liege nutzten.
Schlafen
Der Schlafmangel durch das Baby war schon hart. Aber es funktionierten auch ein paar Aspekte gut, vor allem das Kleine nachts möglichst nicht stärker aufzuwecken. Es also natürlich zu trösten und zu füttern (meist Stillen), aber soweit möglich ohne Hochheben, ohne Licht; Wickeln nur wenn nötig. Hatte ich aus einem Artikel der Zeit aufgeschnappt. Wirklich gut wurden die Nächte aber erst wieder kürzlich, mehrfach zumindest, seit das Wesen feste Nahrung isst und auch nachts nicht mehr gestillt wird.
Oder es kann wie heute laufen: Erst nicht ins Bett wollen, dann mindestens achtmal die Nacht aufwachen, um fünf nicht mehr schlafen können und dann morgens zu müde zum Essen sein, also danach hungrig und müde. Ich nenne sowas "Die Ankunft des Monsters". Und dann lächelt es doch wieder, wenn es um 8:30 morgens nochmal in Richtung Bett geht und prustet mir auf der Wickelkommode im Dialog etwas vor. Naja.
Spielen
Wenn ich vorher auf kleine Kinder aufpasste war das regelmäßig auch langweilig. Auch das machte mir vorab Sorgen. Stellt sich aber raus, dass es mit etwas Übung etwas anders ist, man lernt wann die eigene Aufmerksamkeit voll gebraucht wird und wann nicht. Zusätzlich habe ich Podcasts als praktische Ablenkung entdeckt. Da zahlt sich auch aus, dass das neue Telefon einen langlebigeren Akku hat.
Nach einem Jahr darf ich baff feststellen: Das kleine Wesen fehlte vorher. Und das ist mein schönster Gedanke. Mal schauen wie es weitergeht.
Geburt, Stillen und der deutsche Natürlichkeitswahn
Ich möchte diesen Blog nicht in einen Babyblog umwandeln, aber ein paar Sachen müssen hier rein bevor ich sie vergesse. Diesmal eine Beobachtung, die bei der Recherche vor der Geburt bei mir für viel Unsicherheit gesorgt hat: Der in Deutschland existierende Fokus auf die natürliche Geburt und Ernährung ist seltsam! In anderen Ländern ist das anders. Gerade Frauen kann der deutsche Weg schaden.
Geburt vs Kaiserschnitt
In Deutschland wurde uns sehr deutlich gemacht, dass die natürliche Geburt der einzig richtige Weg sei. Im (ansonsten gar nicht schlechten) Geburtsvorbereitungskurs wurde von der Hebamme unmissverständlich der Standpunkt vertreten, dass die Geburt ganz toll sei, sie nahezu allen Frauen gelinge, der Prozess beherrschbar sei. Diese angebliche Beherrschbarkeit findet sich im deutschen Denken sogar bei der Schmerzmittelgabe wieder: Mehrfach wurde mir erzählt, dass bei der Geburt trotz Wunsch keine Mittel gegen die Schmerzen gegeben wurden, die Hebamme dazu aufrief, ohne durchzuhalten. Mag nicht die absolute Regel sein, aber dazu passt die geringe Zeit, die im Geburtsvorbeitungskurs über Schmerzmittel geredet wurde: Nämlich nur auf Nachfrage, und dann ganz kurz. Alles folgt der Maxime: Die Geburt sei sicher und Frauen könnten das, so natürlich wie möglich sei die beste Option. Entsprechend wird eine nicht funktionierende natürliche Geburt dann als individuelles Scheitern wahrgenommen, wie ich bei mehreren Müttern schon beobachten musste.
Das Nichtbesprechen der Folgeschäden und Schmerzmittel mag teilweise Beruhigungstherapie gewesen sein. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema und den Optionen war es aber nicht.
Auch bei den Ärzten war die natürliche Geburt gesetzt. Das ging so weit, dass bei einem Vorgespräch ein Arzt im Krankenhaus behauptete, einen Kaiserschnitt ohne medizinischen Grund würden sie überhaupt nicht machen, das verstoße gegen den Grundsatz der Schadensvermeidung (also dem hippokratischen Eid). Wenn das Baby sich also noch drehen sollte würde der Kaiserschnitt gezwungenermaßen wieder abgesagt, wir hätten da gar kein Mitspracherecht.
Dann liest man da etwas nach und stellt fest: Das stimmt so beides nicht.
Zuerst einmal sind natürliche Geburten relativ riskant. Damit meine ich nicht nur, dass insbesondere abhängig der Lage das Baby dabei sterben kann – das ist im System bekannt, auch wenn unsere Frauenärztin sich immer noch genötigt sah uns einzuschärfen, uns angesichts der Beckenendlage nur ja nicht trotzdem zu einer natürlichen Geburt überreden zu lassen. Das muss also vorkommen (tatsächlich listet die AOK es als Option). Nein, neben den Schmerzen und dem Risiko für das Kind sind die Folgeschäden für die Frau das Problem. Doch die werden in Deutschland gar nicht richtig erfasst, man weiß nur, dass sie häufig sind. Im Spektrum der Wissenschaft gab es einen erschreckenden Artikel dazu. Demnach wird nichtmal die Sterblichkeitsrate der beiden Geburtmodi richtig erfasst. Und zu den Folgeschäden – da geht es insbesondere um Inkontinenz – heißt es:
In Deutschland gebe es keine etablierten Standards zur Erfassung von Beckenbodenbeschwerden nach der Geburt, erläutert Sebastian Ludwig, Leiter des Kontinenz- und Beckenbodenzentrums an der Frauenklinik der Universität zu Köln. Die Frauen müssten sich selbst melden. Doch das tue laut einer Onlineumfrage nur eine Minderheit.
Ohne solche Daten können Ärzte aber über die Risiken gar nicht richtig aufklären. Weil sie sie selbst nicht kennen.
Und das mit dem unmöglichen Wunschkaiserschnitt? Glatt gelogen. So schreibt stattdessen die Barmer:
Möchte eine Schwangere dann trotz eingehender Beratung weiterhin einen Kaiserschnitt, so wird dieser in der Regel auch durchgeführt. Der Wunsch der schwangeren Frau ist in diesem Fall entscheidend.
Dass das in einem Artikel steht, der ansonsten heftigst für die natürliche Geburt wirbt, ist dabei ein perfektes Beispiel für die Situation in Deutschland. Die Frau hat auf dem Papier die Wahl, in Wirklichkeit muss sie für eine Wahlmöglichkeit gegen das System kämpfen. Wobei der Fairness halber hier erwähnt sei, dass ein anderer Arzt im gleichen Krankenhaus unabhängig von der Lage wegen der Maße zum Kaiserschnitt riet, mit seiner Hilfe wäre das also bei uns so oder so gegangen. Und auch erwähnt gehört: Natürlich könnte das in anderen Regionen Deutschlands als der meinen etwas anders sein (wobei ich dafür bisher keine Hinweise fand).
In einigen anderen Ländern ist das völlig anders. Da entscheiden Frauen frei und weit im voraus, ob sie eine natürliche Geburt versuchen wollen oder direkt einen Kaiserschnitttermin ausmachen. Ich kann nicht sagen, ob Deutschlands so ganz andere Handhabe da einzigartig ist, aber sie ist auf jeden Fall nicht universell verbreitet.
Stillen vs Flasche
Einen ähnlichen, wenn auch weniger gravierenden, Natürlichkeitsfokus konnte ich beim Thema der Ernährung beobachten. Hier ist Stillen die natürliche Option und deswegen gesetzt. Literatur wie Hebammen stehen auf dem Standpunkt, dass Frauen das fast immer gelingen kann, man dürfe nur nicht zu schnell aufgeben. Und dabei werden die Gesundheitsvorteile für das Baby stark betont.
Nun ist es beim Thema Stillen so, dass die Grundeinstellung korrekt ist. Stillen ist allen Datenlagen nach wirklich gesünder für das Baby, daran gibt es – anders als bei der Abwägung von natürlicher Geburt und Kaiserschnitt – keinen Zweifel. Nur: Das bedeutet eben nicht, dass die Flasche mit Milchpulverlösung nicht trotzdem gegeben werden sollte.
Denn erstens sehe ich überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass die Mutter tatsächlich immer ausreichend Milch produziert. Dann nicht per Flasche nachzuhelfen führt nur zu vor Hunger schreienden Babys, die per ausländischem Blick in Deutschland erstaunlich verbreitet sind. Ein Hinweis darauf ist auch, dass nur 57% der Mütter nach zwei Monaten noch stillen, obwohl 90% vor der Geburt das Stillen planten (Quelle).
Zweitens ist das Gewöhnen des Babys an die Flasche super wichtig. Sicherheit wenn die Muttermilch ausbleibt ist da noch der kleinere Grund. Der wichtigere, dass so der Vater auch das Baby versorgen kann, z.B. wenn die Mutter früh wieder arbeiten gehen will. Das mag in Deutschland ungewöhnlich sein, ist 2024 aber wohl kaum eine absurde Vorstellung.
Stattdessen wird gegen die Mischung gewarnt. Das könne die Brust verwirren, die doch sonst immer genau so viel Milch herstellt wie das Baby braucht, wird ernsthaft mit Gewissheit behauptet. Belege dafür sah ich keine. Im Gegensatz dazu kenne ich die Mischung von Stillen und Pulvernahrung aus anderen Ländern, und habe nichts von Problemen gehört.
Dass die Mischung so schwierig ist wie uns hier erzählt wurde ist mir nicht schlüssig. So ist doch im Gegenteil eher stark anzuzweifeln, dass die natürliche Milchproduktion tatsächlich immer genau so skaliert wie postuliert wird, eine im Zweifel zu geringe Produktion ist wahrscheinlicher. Warum auch nicht? Die Evolution würde nur fürs statistisch ausreichend häufige Überleben sorgen, nicht für Komfort, und auch verhungernde Babys wären in einer natürlichen Lebensweise sicher ganz normal. Dann wäre die Zwiemilchernährung eine große Hilfe und längst nicht so absurd, wie das hier im Vorfeld zwischendurch klang.
Natürlich hat der Kaiserschnitt seine eigenen Risiken (haben wir leider sogar selbst erlebt), und dass Stillen an sich wirklich gut funktionieren kann ist auch klar (und ebenfalls selbst erlebt worden). Und auch wenn das oben vll anders klingt, haben wir tolle Hebammen und Ärzte kennengelernt, die trotz der oft durchscheinenden Prägung in vielen Bereichen sehr geholfen haben. Aber dieser in Deutschland so starke Glaube an die Natur bei allem, was mit Geburt und Babys zu tun hat, ist dennoch erstaunlich.
Und die Existenz dieser speziellen deutschen kulturellen Eigenheit des Naturglaubens ist etwas, dem man sich durchaus bewusst sein sollte, wenn man hier im System steckt. Denn entsprechend sind viele Interaktionen mit Ärzten, Krankenhaus und Hebammen eingefärbt. Es ist an einem selbst, diese existierende lokale Lehrmeinung bei erhaltenen Ratschlägen einzupreisen und entsprechend gegebenenfalls abweichende Entscheidungen zu treffen.
Sechs Monate Baby
"Eine total tolle Zeit" sagt die Hausphysikerin im Rückblick auf die letzten sechs Monate, während sie kaum die Augen aufhalten kann und eine Tasse mit schwarzem Tee in der Hand hat, die Nacht war hart. Der bewusste Gegensatz macht den ernstgemeinten Ausspruch zum Scherz, das fasst vieles gut zusammen.
Ich hatte einiges vorab falsch eingeschätzt. Wenn Eltern davon redeten wie sehr das Babylächeln für all die Folter entschädigen würde (Schreien, Schlafentzug, Windelwechseln) hielt ich das für Selbstbetrug. Etwas, was sie sich erzählen um die Situation schönzureden. Doch dann lächelt dich das kleine menschliche Wesen an, zum ersten mal, und es ist wirklich so viel wert. Wenn es zum ersten mal laut lacht. Oder auch "nur" sich zum ersten mal dreht, richtig greift, die Katze streichelt – jeder Fortschritt wird etwas wirklich großartiges. Die erste echte Umarmung, wenn es sich wohlig in der Schulter vergräbt; nein, ich weine nicht, ich hab was im Auge.
Und dann ist da noch die unbändige Freude, die das Wesen selbst verspürt. Wenn es abwechselnd laut glucksend lacht oder erfreut lauthals schreit, wenn im Spiel Vater oder Mutter ins Blickfeld kommen und wieder verschwinden. Die Freude an allen Bewegungen, durch die Luft zu fliegen, auf die Schulter gehoben zu werden und plötzlich ganz woanders zu sein. Aber auch die ruhigere Zufriedenheit ist sehr angenehm zu sehen, wenn es oft eine wirklich lange Zeit einfach ein Spielzeug in der Hand herumjongliert.
Wobei wir bisher Glück hatten. Dass es diese ruhige Phasen gibt, sie generell sogar häufig sind. Auch ist da nichts mit stundenlangem Herumtragen in der Nacht damit es schläft, die Situation gab es als absolute Ausnahme einmal am Anfang. Das sei ein Luxus, behaupten anderere Eltern. Nur wirklich Durchschlafen ist halt trotzdem nicht für uns beide möglich, dafür wird zu oft Essen gebraucht.
In diesen ersten Monaten war trotz des schlechten Starts durch die so schnell fortschreitende positive Entwicklung des Wesens viel Bewegung in der Situation. Das wird absehbar bald echte Bewegung werden, man kann merken, wie das Herumliegen zwischendurch nervt, die Beine zucken, das Robben müsste bald funktionieren. Auch die Ernährung dürften wird bald umstellen müssen. Dann wird wieder viel anders werden.
Die Schwangerschaft als Desaster (Hyperemis Gravidarum)
Titel zum Trotz bin ich überglücklich, dass in diesem Haushalt neben der Hausphysikerin, den euch aus den Fotos bekannten zwei Katzen und natürlich mir nun ein kleines menschliches Wesen lebt. Und wenn dieser Artikel online geht hat das auch tatsächlich geklappt, ist das Baby gesund geboren worden. Aber ich schreibe ihn lange vor der Geburt, auf Wunsch der Schwangeren um zu teilen, wie eine Schwangerschaft anfangs auch ablaufen kann. Nämlich furchtbar schlimm.
Die Realität einer schwierigen Schwangerschaft
Wie sieht man Schwangerschaften sonst? In Filmen trinkt eine Frau einen Kaffee und muss sich plötzlich übergeben, eine andere Frau grinst "Bist du etwa schwanger?", abgesehen von dem gelegentlichen Übergeben geht es der Frau gut, die Handlung geht weiter, irgendwann ist das Baby da.
Stattdessen war unsere Realität eine wirklich sehr kranke Frau. Stark abgekürzt: Ziemlich direkt nach Woche 5 erlebte sie eine Erkrankung mit Fieber und Durchfall, was durch Antibiotika behandelt wurde. Doch dann kam Übelkeit dazu. Und die wurde immer schlimmer, trotz Arztbesuchen. Es ging so weit, dass gar nichts mehr drin blieb – nichtmal Wasser. Alles wurde erbrochen, der Körper wurde immer schwächer. Selbst Reden ging kaum, die Übelkeit meldete sich sofort. Nach ein paar Tagen ohne echte Flüssigkeitsaufnahme ging es nicht mehr. Also Krankenhaus. Dort wurde sie mit Infusionen versorgt, was erstmal ganz schnell half. Die Diagnose: Hyperemesis gravidarum (HG).
Nach ein paar Tagen entlassen und wieder daheim wurde der Zustand langsam wieder schlechter. Die Übelkeit kam zurück. Zudem Bauchschmerzen. Sie konnte ein bisschen essen und trinken und erbrach nicht mehr alles sofort, zahlte dafür aber mit stundenlangen Bauchschmerzen (bei gleichzeitiger Übelkeit und Sodbrennen), so heftig, dass sie nicht viel mehr machen konnte als sich zu einer Kugel zusammenrollen und im Sessel, Bett oder Sofa vor sich hinzuleiden.
Während der Zeit nahm sie Medikamente. In einer normalen Schwangerschaft sollten diese helfen, und sie halfen, aber nicht ansatzweise bis zur Symptomlosigkeit. Meclozin dreimal am Tag, dazu Omeprazol und Riopan, weil eine Gastritis am Anfang der Schwangerschaft als Ursache vermutet wurde bzw gegen das Sodbrennen. Nach einer Weile hatte ich mich eingelesen und wollte sie auf Ondansetron umstellen lassen, aber der Frauenarzt schätzte das Risiko als zu groß ein und wollte damit bis nach der 12. Woche warten. Da die Symptome zu dem Zeitpunkt langsam beherrschbar wurden akzeptierten wir das.
Aber der Zustand war heftig. Und er machte so viel alltägliches schwierig bis unmöglich. Essen und Trinken war jedes mal ein Drahtseilakt. Zähne putzen? Führte zu Erbrechen. Duschen genauso. Ohne Lösung. Also wurde reduziert, Zähne seltener geputzt und nur, wenn sowieso nichts im Magen war. Und eine Katzenwäsche statt Dusche musste eine Weile meist reichen.
So ging es weiter. Viele schlechte Tage mit viel Erbrechen und starken Schmerzen, sodass sie kaum arbeiten oder auch sonst nur irgendwas tun konnte. Absurderweise wollte sie trotzdem arbeiten, war teilweise krankgeschrieben und hätte das wieder haben können, aber wollte das nicht. Zu dem Zeitpunkt waren wir beide im Ausland und sie wollte weder ihren deutschen Arbeitgeber überfordern noch sich komplett unnütz fühlen. Ich hielt dagegen, weil die Arbeit ihr definitiv nicht gut tat und Tage mit Arbeit zu ihren schlimmsten Tagen wurden, aber den Kampf verlor ich.
Ihre Tage verbrachte sie ansonsten schlafend und hörte YouTube, die Videos anzuschauen ging nicht und auch sonst nichts. Wer da etwas mehr sehen will möge sich dieses Video ansehen. Tech-Youtuberin Sara Dietschy beschreibt neben dem üblichen Babykitsch da auch ihr schweres erstes Trimester, wie schlecht es ihr ging, und es spiegelt viel davon wie es bei uns lief.
Nur, dass es in unserem Fall noch schlimmer war, die HG-Grenze eben überschritten worden war und wir nur die noch schlimmeren HG-Fälle als "Es könnte schlimmer sein" hatten.
Und dann – kamen langsam bessere Tage. Mit Erreichen der Woche 11 passierte es plötzlich, dass Essen komplett aufgegessen wurde, Tee nicht mehr mindestens zur Hälfte in der Tasse blieb. Sie konnte sich wieder bewegen, langsam zuerst natürlich. Auf die gute Phase folgte wieder eine schlechte, aber das war die letzte. Danach konnte wir sogar gemeinsam rausgehen, kleine Reisen durchführen (immerhin waren wir in einem Urlaubsland), Essen gehen(!). Es war perfektes Timing, denn der geplante Rückflug nach Deutschland konnte so stattfinden. Ich beantragte per Assistenzformular der Lufthansa einen Rollstuhl, was problemlos klappte und eine Riesenhilfe war. Denn schon das Stehen am Checkin-Schalter war zuviel, die Schlange der Sicherheitskontrolle wäre ohne Rollstuhl nicht gegangen. Ausdrücklich ein Lob an die Lufthansa hier, die Mitarbeiter waren hervorragend geschult und wirklich hilfreich. Und jetzt, während ich das schreibe in Woche 13/14, geht es ihr wieder gut. Sie ist geschwächt und fühlt sich immer noch komisch, aber hat einige Tage nicht mehr erbrochen, ist gerade sogar auf der Arbeit und glücklich darüber.
Erschwerung: Ausland, Umfeld und Unverständnis
Ich weiß nicht, ob das alles in Deutschland besser gelaufen wäre. Sie war zu Beginn der Schwangerschaft in ihrem Heimatland, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Ich kam nach dem ersten Krankenhausaufenthalt dazu, um dann sie zu pflegen. Davor hatte ich mit der Auslandskrankenversicherung versucht ihren Rückflug und ihre Pflege zu organisieren, mit gemischtem Ergebnis: Die Versicherung hätte die Kosten bezahlt, wenn sie in ein gutes Krankenhaus gegangen wäre, außerhalb eines Krankenhausaufenthalts Medikamenten- und Arztkosten rückerstattet. Aber zu dem Zeitpunkt war sie schon in ein gewöhnliches gegangen und wurde da gut versorgt. Das war kostenlos, das gute Krankenhaus wäre weiter weg gewesen und hätte mehrere Tausend Euro gekostet, deswegen hatte die (nicht reiche) Familie es nicht auf dem Schirm. Danach hätte die Versicherung immer noch ihren Rückflug bezahlt, aber ohne Begleitung, und um alleine zu reisen fühlte sie sich viel zu schwach. Schon zum Flughafen zu kommen schien ihr wie ein unüberwindbares Hindernis.
Bis ich dann da war und wir die Diagnose verstanden und nachrecherchiert hatten, war sie auch völlig verunsichert. Denn mehrmals wurden ihre Symptome einfach nicht ernstgenommen. Sie hörte Sprüche wie "Kotzen ist in der Schwangerschaft normal". Ein erstes Krankenhaus wollte sie nicht aufnehmen weil sie nichts habe, da hatte sie tagelang nichts mehr richtig Trinken können und beobachtete Vaginal-Blutungen. Das zweite nahm sie dann, daher kam dann die Diagnose. Selbst der Frauenarzt, der sie eigentlich richtig zu behandeln schien und mit dem ich später über Ondansetron diskutieren konnte – der die Studienlage kannte – warf ihr zwischendurch ein "Es ist Einstellungssache, wenn du dich über die Schwangerschaft freust wird es besser" entgegen. Wo sie dann nur noch Weinen konnte. Weil es natürlich Blödsinn ist: Wenn die Übelkeit und die Schmerzen so schlimm sind ist es keine Einstellungssache mehr, wenn nichtmal Wasser aufgenommen werden kann ist es keine normale Morgenübelkeit. Dann braucht es handfeste medizinische Hilfe, und selbst das sonst fähige und nette Umfeld hier war nicht in der Lage, das schnell richtig zu erkennen. Und ihr fiel es in ihrem geschwächten Zustand unheimlich schwer, die Hilfe selbst zu organisieren, auch weil ja nie klar war was wirklich helfen würde und erste Versuche scheiterten.
Beim obigen Frauenarzt passierte auch folgende Szene: Die Übelkeit und Schmerzen noch sehr schlimm, gehen wir hin um die Medikation zu überprüfen und um zu klären, wann sie wieder ins Krankenhaus muss. Sie berichtet von ihren starken Schmerzen, die Arzt zuckt die Schultern und redet wieder über Einstellung. Etwas später wiederhole ich, wie stark die Schmerzen sind. Da horcht er auf, will mehr wissen, verschreibt schließlich Spritzen (die wir dann doch nicht nutzten, weil zu schwierig, aber wäre der Rückflug früher gewesen wären sie wohl zum Einsatz gekommen). Mir als Mann wurde geglaubt, der betroffenen Frau nicht.
Selbst in Deutschland brachte die Frauenärztin gestern ein "Ja, das geht vielen Frauen so", als ich von ihrem vorherigen Zustand berichtete. Nahm die uns etwa auch nicht ernst? Hyperemesis Gravidarum betrifft im schweren Verlauf 0,2-1% der Schwangerschaften, uns geteilte Schilderungen von Morgenübelkeit sind meistens viel harmloser, wie kann das dann vielen Frauen so gehen?
Besonders mies auch, wie dieses Unglauben durch soziale Medien verstärkt werden kann. Als wir schon die Diagnose kannten, aber die Symptome noch sehr schlimm waren, stolperten wir über ein YouTube-Short, in dem eine Frau zeigte was sie trotz HG in einem Tag alles essen würde. Riesige Portionen, darunter ein riesiger Garnelesensalat, der blieb mir besonders im Kopf. Komplett gelogen, keine Frau mit Hyperemesis Gravidarum kann sowas in der aktiven Phase essen, man ist froh wenn mithilfe der Medikamente zumindest der Großteil des Zwiebacks drin bleibt.
Aber auch die Informationen außerhalb von böswilligem Clickbait sind oft nicht hilfreich. Esse kleine Portionen, vermeide dies und das, trinke Ingwer – vll hilft das bei regulärer Morgenübelkeit ein kleines bisschen. Bei HG hilft es null. Vermittelt aber das Gefühl, etwas tun zu können, und damit das Gefühl, selbst schuld zu sein wenn nichts hilft. Dabei ist genau das der springende Punkt: Nichts hilft, außer starken Medikamenten, Infusionen im Notfall und natürlich dem Fortschreiten der Zeit.
Tipps und Hinweise
Wer diesen Artikel liest ist wahrscheinlich ein Stammleser dieses Blogs oder aber selbst von einer überschweren Morgenübelkeit betroffen. Für die zweite Gruppe ist dieser Abschnitt, alles was ich weiß so komprimiert wie möglich.
- Wenn die Schwangerschaftsübelkeit besonders schlimm ist, das Erbrechen ständig ist (insbesondere wenn trotz Medikamenten) und Gewicht verloren wird, ist es wahrscheinlich Hyperemesis Gravidarum.
- Lass dir vor niemanden einreden, dass das normal sei, lass dich nicht fühlen lassen, als sei es deine Schuld. Vorsicht selbst wenn das Gegenüber ein Arzt ist. Die Symptome sind unkontrollierbar, genau das ist die Krankheit. Ein Hormon wird ausgeschüttet, auf das du stärker reagierst und noch nicht gewöhnt bist. Du kannst nichts machen außer mit Medikamenten gegenzusteuern, wahrscheinlich musst du mindestens einmal ins Krankenhaus für Infusionen, wenn du komplett am Austrocknen bist.
- Einschränkung: Teil des Problems ist, dass reguläre Morgenübelkeit tatsächlich auch sehr mies sein kann. Das erschwert, Extremfälle als solche wahrzunehmen. Gewichtsverlust (hier waren es 5 Kilo), Nicht-Trinken-Können, dauerhaftes Erbrechen, darauf musst du achten und spätestens ab dann braucht du Hilfe.
- Wenn du Energie mit alternativer Medizin verplempern willst: Nur zu. Ein kleiner Teil der Sache ist möglicherweise wirklich Einstellungssache. Und brauchbare Tipps für den miesen Geschmack im Mund mögen auch aus dieser Ecke kommen. Es wird aber nicht wirklich helfen, also ab zum echten Doktor.
- Es gibt Medikamente gegen Übelkeit und Erbrechen, z.B. das Antihistaminikum Meclozin (normalerweise plus Vitamin B6). Wird in Deutschland nicht mehr verkauft, ist aber importierbar, es half in unserem Fall ein bisschen. In Deutschland gibt es stattdessen andere Antihistaminika. Grey-Label für Hyperemesis Gravidarum wird auch Ondansetron benutzt, da gab es sich widersprechende Studien zu sehr seltenen negativen Wirkungen auf das Baby, daher zögern da noch manche Ärzte. Könnte es aber wert sein.
- Um dich zu informieren und um alle Medikamente auf ihre Verträglichkeit zu prüfen solltest du Embryotox kennen. Die Datenbank habe ich auch oben für ihre jeweiligen Einträge verlinkt. Gerade im Ausland gab es uns Sicherheit, dass die verschriebenen Medikamente tatsächlich angemessen und sicher sind.
- Wichtig: Es geht vorbei! Auch wenn es gerade sich nicht so anfühlt. Typischer Besserungspunkt ist Woche 12, auch vorher sollte es wieder bessere Tage geben. Es kann länger dauern, Woche 20 ist auch nicht ganz unüblich. Aber spätestens ab Woche 12 dürften bessere Medikamente wie Ondansetron helfen.
- Wasser kann schwieriger sein als andere Getränke. Zeug mit Kohlensäure sei schlecht für den Magen, wurde hier aber trotzdem besser vertragen, Sprite beispielsweise. Tee blieb auch besser drin als Wasser und verursachte weniger Schmerzen. Aber denke an die Giftstoffe, nicht zu viel Tee, nicht immer die gleiche Sorte.
- In den schlimmsten Phasen gingen Getränke einfach nicht. Stattdessen gab es Früchte: Wassermelone, andere Melonensorten, Gurken, Papaya. Die Fasern sollen helfen. Und scheiß auf den Zucker, du bist eh am Abnehmen.
- Einfaches Essen mit wenig Gewürzen und ohne Fett ist tatsächlich am verträglichsten. Zwieback ist sicher eine gute Idee, mit und ohne Zucker. Reiswaffeln genauso. Ein paar Tage lang kochte ich Hähnchenbrust ohne Öl, das gab es dann mit etwas Salz und Tortillas oder Reis. Du wirst experimentieren müssen. Und ja, das war bewusst Fleisch, obwohl wir ansonsten daheim vegetarisch kochen (obwohl die Küche plötzlich ganz umzustellen an sich keine gute Idee ist).
- Dass du keinen Hunger hast ist normal. Iss trotzdem.
- Solltest du wie wir im Ausland sein: Denke an die Auslandskrankenversicherung. Besonders wichtig in Ländern, wo du ohne Versicherung oder Vorauszahlung in gute Krankenhäuser nichtmal hineinkommst. Wir hatten zuerst völlig vergessen, dass wir die (als Zusatzplan der TK) haben. Für den Rückflug: Die Mobilitätshilfen der Fluglinien sind super, damit kommst du dann per Rollstuhl durch das Flughafenchaos. Versuche den Rückflug nach Woche 12.
- Egal für wie modern du die Gesellschaft hältst: Wenn irgendwie möglich habe einen Mann dabei, der dir in den Gesprächen mit den Ärzten hilft.
Ich will nicht lügen: Es war eine unheimliche Belastung. Für sie mehr, klar, aber auch für mich und mein erweitertes Umfeld. Erst als der Zeitrahmen absehbar war, als die Medikamente überprüft und bestätigt waren fühlte sich das langsam etwas besser an. Und es half das Wissen, dass richtig versorgt weder die Frau noch das Baby besonders gefährdet sind. Fehlgeburten seien bei Schwangerschaften mit Hyperemesis Gravidarum vielleicht sogar seltener als bei normalen (dafür Frühgeburten etwas häufiger).
Ich hoffe, der Wunsch meiner Frau geht auf und dieser Artikel hilft dem bzw der einen oder anderen, mit dieser schwierigen Situation etwas besser umzugehen. Auf dass die Übelkeit bald verschwindet und der Rest der Schwangerschaft ohne Probleme verläuft.