Das Softwareprojekt kann es nicht gewesen sein.
Der vermeintliche Verkauf von Audacity wirft weiterhin Fragen auf. Das kam jetzt wieder auf im Nachklang des Telemetrie-Debakels, als Audacity direkt nach der sogenannten Übernahme Telemetriedaten an Google und Yandex senden wollte. Doch was wissen wir über diese Änderung im Projekt überhaupt?
Was wurde berichtet
Caschy nannte es in seinem Blog eine Übernahme. Bei Audacity auf der Webseite wurde nur eine Mini-Nachricht gepostet, Audacity has just joined Muse Group. Das ist auch dort nur ein Zitat von Martin Keary (Tantacrul), der dort ein Projekt leitet und jetzt auch Audacity leiten soll. Er selbst hat dazu ein Youtube-Video veröffentlicht und das hat einen eindeutigen Titel: I’m now in charge of Audacity. Seriously.
Tantacrul kommt in dem Video positiv und überlegt rüber, interessiert am Projekt. Das ist nicht das Problem. Die Frage ist, wie diese Übernahme zustandegekommen sein soll. Er beschreibt das zu Beginn des Videos so:
Well, in short: Audacity has just joined Muse Group, a collection of brands that includes another popular open source music app called MuseScore, which I’m currently in charge of. And since things are going rather well at MuseScore, I was asked to step up and also manage Audacity in partnership with its open source community.
Was genau das ist, was auch bei der Audacity-Webseite als Zitat genommen wurde.
Was genau ist Muse Group? Sie beschreiben sich selbst auf ihrer Webseite. Es ist ein Unternehmen. Und in der Timeline steht auch, wie sie Audacity einordnen: Als acquired, also gekauft, oder zumindest unter der eigenen Kontrolle stehend.
Was, wie ich eingangs behauptet habe, nicht sein kann. Doch dafür müssen wir uns angucken, aus welchen Bestandteilen Audacity besteht und was davon kaufbar ist.
Audacitys Bestandteile als kaufbare Objekte
Ohne in irgendeiner Form bei Audacity involviert zu sein, ist das folgende mein Verständnis des Projekts.
Der Code
Die einfachste Variante bei einem proprietären Softwareprojekt wäre der Kauf der Rechte am Code, also dass jemand den Code einer Software und damit die Software selbst kauft. Doch das ist bei Audacity kaum möglich. Zuallererst, weil die Software unter der GPL 2 steht, wie die Webseite selbst verlinkt. Im Kern bedeutet diese Lizenz, dass jedem Nutzer der Software vier Freiheitsrechte zustehen:
- Sie zu nutzen wie man will, für jeden Zweck
- Die Software anzupassen
- Die Software weiterzugeben
- Die Software in veränderter Form weitergeben zu dürfen
Die GPL formuliert das anders und hat andere konkrete Klauseln bezüglich der Urheberauflistung etc, aber auf das läuft es hinaus.
Gleichzeitig hat die GPL die Klausel, dass abgeleitete Varianten der Software ebenfalls unter der GPL bzw kompatiblen freien Lizenzen stehen müssen. Was der Kernunterschied zu BSD- und MIT-Lizenzen sind, die insoweit "freier" sind, als dass bei ihnen die Freiheiten nicht für abgeleitete Werke gelten müssen.
Allerdings berührt die GPL nicht das Urheberrecht. Der Erschaffer ist weiterhin der Urheber. Das ist im deutschen Urheberrecht sowieso so, in den USA aber nicht, dort hat das massiv Bedeutung. Lizenzen wie die GPL nutzen das Urheberrecht, um die Rechte die sie einräumen wollen durchzusetzen.
Jetzt kann natürlich die Muse Group hingehen und das Urheberrecht kaufen. Bzw in Deutschland könnten sie die Verwertungsrechte kaufen. Allerdings stünde die Software weiterhin unter der GPL 2. Die Lizenz kann nicht nachträglich entzogen werden. Der Käufer hätte also Rechte an einem Produkt gekauft, das jedem Empfänger desselben umfassendste Rechte einräumt. Inklusive aller Verwertungsrechte, die bei proprietärer Software ein Käufer für sich beanspruchen würde, wie das Weiterverbreiten des Produkts zu einem beliebigen Preis bei zwingend offenem Quellcode.
Das komplette Urheberrecht zu besitzen könnte ihnen dann aber erlauben, neben Audacity unter GPL-Lizenz eine Variante unter einer anderen Lizenz zu veröffentlichen. Sogar unter einer proprietären. Solche Konstruktionen gibt es, sie sind nichtmal besonders unüblich.
Allerdings: Alleine auf Github werden 127 Mitentwickler gelistet. Bei einem so alten Projekt wie Audacity reicht der Quellcode noch viel weiter zurück als Github bekannt, die Liste ist in Wirklichkeit viel länger, endet Githubs Aufzeichnung doch bereits 2015. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass bisher alle diese Entwickler ihre Urheber- bzw Verwertungsrechte an eine wie auch immer geartete bisher unbekannte Audacity-Institution übertragen haben. Denn zum einen ist diese Idee der Rechteübertragung bei FOSS-Projekten relativ neu. Zudem ist sie wahrscheinlich nicht über alle verschiedenen Rechtssysteme hinweg umsetzbar. Und außerdem finde ich dazu nichts in der Entwicklerdokumentation, während solche zu treffenden Erklärungen sonst normalerweise prominent erwähnt werden.
Es gab also höchstwahrscheinlich keinen einzelnen Ansprechspartner um den Code zu kaufen. Die Muse Group hätte mit jedem einzelnen Entwickler reden müssen, sie alle überzeugen und im Zweifel fürstlich bezahlen müssen. Unwahrscheinlich. Wenn das doch gelang bin ich beeindruckt.
Doch selbst wenn ich mich da vertue und seit zwanzig Jahren jeder einzelne Entwickler sein Urheberrecht nach US-Rechtssprechung auf eine natürliche Person oder ein Unternehmen übertragen hat: Selbst dann stünde noch die GPL. Und die kommerzielle Vermarktung einer solchen Desktop-Audiosoftware unter Doppelt-Lizensierung erscheint mir sehr schwierig.
Zusammenfassend: Rein praktisch war der Code und damit die Software nicht kaufbar, und selbst wenn dieser Kauf gelungen wäre hätte der Käufer in diesem Fall einer Desktopsoftware damit kaum praktisch verwertbare Rechte erworben.
Das Team
Manchmal ist bei Übernahmen gar nicht die Software das Ziel, sondern es sind die Entwickler, deren Arbeitsverträge gewonnen werden sollen. Auch das ist hier höchst unwahrscheinlich.
Zum einen passt es nicht zu dem Video. Was dort beschrieben wurde ist das Ziel, Audacity weiterzuentwickeln. Und das mit einem Ernst, Respekt und in einem Detailgrad, dass diese Ankündigung nicht das durchaus übliche Gelaber bei Silicon-Valley-Übernahmen zu sein scheint.
Zum anderen müssen dafür die Entwickler Teil einer kaufbaren Organisation sein. Gab es denn ein Unternehmen, das die Audacity-Entwickler beschäftigt hat? Ein solches Unternehmen wird zumindest weder auf Wikipedia noch auf der Webseite des Projekts erwähnt. Nein, Audacity wirkt wie die meisten FOSS-Projekte, bei denen die Entwicklung von wenigen Frewilligen getragen wird.
Von Paul Licameli zum Beispiel, der auch im obigen Video auftritt. Er ist zwar laut LinkedIn von einem audacity-Team beschäftigt. Dieser vermeintliche Arbeitgeber verlinkt aber nur zur Audacity-Webseite, die kein Impressum hat und keinerlei Unternehmensform auflistet.
Eine mögliche Konstruktion könnte sein: Es gab hier zwar kein Unternehmen. Aber es gab ein Team, das sich als moralischer Besitzer von Audacity gesehen hat. Und diese Entwickler werden jetzt von der Muse Group beschäftigt. Aber davon war bisher keine Rede. Und auch Paul hat bisher seinen Arbeitgeber auf LinkedIn nicht angepasst.
Und selbst wenn in irgendeiner Form die Kernetwickler gewonnen werden konnten: Selbst dann wäre Audacity selbst nicht Teil des Deals gewesen. Fortan Kernentwickler zu beschäftigen gibt in der Praxis Macht, aber es gibt dem Unternehmen am vorher geschaffenen keine Eigentumsrechte. Audacity wäre weiterhin rechtlich nicht Teil der Muse Group.
Intellectual Property
Intellectual Property (IP) gibt es eigentlich nicht, es ist eine Wahnsinnsidee bekloppter Kapitalisten. Aber okay, wenn es etwas als Idee gibt, dann existiert es eben doch. Und es gibt existierende legale Konstrukte, die so bezeichnet werden. Patente zum Beispiel. Es könnte eine Instutition geben, die mittelbar durch Audacity Patente besitzt. Audacity wurde 1999 an der Carnegie Mellon University gestartet und Universitäten sind berüchtigt dafür, solche diffuse Eigentumsrechte geltend zu machen. Vielleicht hat Muse diese Universität bezahlt, damit etwaige Ansprüche abgetreten wurden. Darauf gibt es aber keine Hinweise.
Ein anderes Beispiel für IP sind Marken (Warenzeichen). Und die sind hier wahrscheinlich im Spiel. Denn es ist auffällig, dass auf der Webseite von Audacity immer von Audacity® die Rede ist. Das ist sehr unüblich für nicht unternehmensgetragene FOSS-Projekte. Es sei eine registered trademark. Sowas wäre kaufbar. Und die Marke gibt es tatsächlich:
Dem Eintrag zufolge registriert von Dominic Mazzoni, einem der Gründer der Software, und jetzt im Besitz der uns bekannten Muse Group. Das einzige direkt greifbare Element im ganzen Puzzle, das gekauft werden konnte, wurde von der Muse Group tatsächlich erworben.
Nur ändert das nicht unbedingt viel. Denn die Marke zu besitzen bedeutet nur, die Marke zu besitzen. Es bedeutet nicht, zusätzliche Ansprüche an Quellcode oder an Loyalität der Entwickler zu haben; An dem Produkt, auf das sich die Marke bezieht.
Audacity wurde nicht verkauft
Mein Ergebnis ist, dass Audacity nicht verkauft wurde. Also nicht das Softwareprojekt. Es konnte nicht verkauft werden. Es gab keinen vorherigen klaren Besitzer und deswegen keine verwertbaren Eigentumsrechte.
Ich vermute es ist folgendes passiert: Die Leute im Audacity-Projekt und die Muse Group haben gesprochen. Und vielleicht waren die aktiven Projektteilnehmer auch wirklich daran interessiert, Audacity mit einer Firma zusammen zu entwickeln. Da könnten Absichtserklärungen abgegeben worden sein. Und an irgendeinem Punkt floss bestimmt sogar Geld. Aber alles, was damit praktisch gekauft werden konnte war die Marke Audacity.
Die Marke und damit das geflossene Geld gibt der Muse Group praktisch null Rechte. Sie könnten damit Forks der Software zwingen, einen anderen Namen zu benutzen. Aber es ändert nichts an den gewährten Freiheitsrechten via der GPL 2, nichts an den Eigentumsverhältnissen des Codes. Und auch nichts an der Machtstruktur im Projekt – außer praktisch, wenn sie die Adminrechte am Github-Projekt übertragen bekommen haben.
Muse Group kann aber natürlich trotz der fehlenden rechtlichen Bindung mit den FOSS-Entwicklern von Audacity zusammenarbeiten. Sie wollen Usability-Studien machen, scheinbar Usability als Prozess in die Entwicklung einbringen. Das könnte eine gute Sache sein.
Aber diese vermeintliche Übernahme gibt ihnen in Wirklichkeit wenig Macht über das Projekt. Muse hat wahrscheinlich nur eine fast wertlose Wortmarke gekauft. Nicht ganz wertlos, weil man ja mit einer so bekannten Marke doch irgendwie Geld verdienen kann. Aber doch fast wertlos, weil mit ihr kaum Kontrolle über das Produkt und Projekt selbst ausgeübt werden kann.
Nun frage ich mich: Wissen die das? Es ist zwar schwer vorstellbar bei einer Firma, die mit FOSS arbeitet, aber Fehler können immer passieren. Hatte die Muse Group vielleicht den Eindruck, wirklich das Audacity-Projekt zu kaufen?
Und: Wissen die Audacity-Entwickler, dass in Wirklichkeit weiterhin sie das Projekt kontrollieren könnten? Oder meinen sie wirklich, dass ihr Code und ihre Urheber-/Verwertungsrechte nun jemand anderem gehören?
Viel könnte hier auch einfach falsch kommuniziert worden sein. Vielleicht ist allen Beteiligten die Lage durchaus klar. Tantacrul könnte der Projektleiter des internen Audacity-Projekts bei Muse Group sein und das eigentliche Audacity-FOSS-Projekt gewillt, ihn mal eine Weile walten zu lassen. Geschenkter Usability-Arbeit sollte man nicht ins Maul schauen. Gekauft wurde nur die Marke, aber effektiv die Leitung aus Gutdünken eben auch überlassen, weil es sonst niemand machen wollte oder weil die Überzeugung da war, dass er das am besten kann. Wie es in einer Meritokratie eben passieren kann. Und als die Verlautbarungen dann erstmal missverstanden wurden hatte niemand Interesse daran, das sofort öffentlich auszudiskutieren.
Oder nur einer täuschte sich hier lautstark. Tantacrul schrieb ja selbst im Issue zur Telemetrie-Korrektur:
The first few questions are the ones most people want to know the answer to, I think. The only reason I'm not jumping on it right away is because I don't want to get any details wrong.
My role is product direction and design and I really want to publish a vision properly so it can be commented on more broadly. I'd prefer not to outline it all in text here.
I hope you understand. The issue I'm addressing in this discussion is super sensitive and I don't want to get anything wrong that might come back to haunt me. We are painfully aware there is a dearth of information and it is being sorting out.
Er hat also von dieser Übernahme gar nicht wirklich Ahnung. Wenn nur er missverstanden hat, wovon er jetzt tatsächlich der Leiter ist, wollte ihn vielleicht niemand blamieren.
Audacity wurde gekapert?
Wie auch immer: Ich bin ziemlich sicher, dass die Muse Group nicht wirklich der Besitzer des Softwareprojekts Audacity ist. Sie hätten dafür die urheberrechtlichen Verwertungsrechte aller bisherigen Entwickler kaufen müssen. Ganz vielleicht haben sie stattdessen eine Rechteabtretung der aktiven Kernentwickler und/oder die Absprache gekauft, ab jetzt das Projekt zu kontrollieren. Und wollen später mit proprietären Zusatzdiensten Gewinn erzielen. Das könnte funktionieren, wenn sie direkt oder indirekt Adminrechte auf der Webseite und im Github-Projekt haben und solange niemand mit ähnlicher praktischer Macht sie herausfordert, ist aber keinesfalls wasserdicht.
Der Kauf der Audacity-Marke wäre für eine solche Machtübernahme allerdings ein verwertbarer Baustein. Wenn das aber hier so gelaufen ist, dann ist es höchst bedenklich. Praktisch würde es bedeuten: Jedes Softwareprojekt kann von einer Firma gekapert werden, wenn die Firma alle Entwickler mit Adminrechten an der existierenden Entwicklungsstruktur (Github, Webseite) bestechen kann. Entwickler ohne solche Rechte hätten dabei kein Mitspracherecht. Nur bei der GPL könnten sie zumindest eine Lizenzänderung verhindern.
Ich könnte mich natürlich täuschen. Der Artikel ist auch deswegen so lang, weil ich im Laufe des Schreibens immer mehr Optionen gesehen habe, wie die Muse Group nun doch faktisch das Projekt kontrollieren könnte ohne der echte Besitzer zu sein. Ich bin daher gespannt, ob und wie sie die Übernahme erklären werden. Denn wenn es ein simples Kapern der Leute mit Adminrechten war: Dann stinkt die Aktion mehr als ich initial glaubte.