Saddy am :
Schönes Review, danke!
Cyberpunk 2077 war schon vor der kürzlich erschienen Erweiterung ein fantastisches Spiel – grafisch, spielerisch, von der Atmosphäre. Phantom Liberty erweitert das Stadtgebiet von Night City um einen gelungen andersartigen Bereich und erzählt darin eine spannende zusätzliche Geschichte, plus einige Nebenquests. Gleichzeitig kam Patch 2.0 heraus, der viele Details des Grundspiels änderte. Doch nicht alles gefällt mir.
Dieser Artikel beschreibt meinen Eindruck nach etwa 50 Stunden. Ich bin mit der Erweiterung – für die ich einen neuen Spielstand angefangen hatte – und dem Spiel noch nicht fertig, werde aber eine Weile nicht mehr dazu kommen weiterzumachen. Um die Releasenähe und meine bisherigen Gedanken nicht zu verlieren daher dieses vorgezogene Review. Ändert sich in Zukunft etwas an meinem Eindruck folgt ein Update.
Update 01.12.2023: Mittlerweile habe ich die Erweiterung durchgespielt. Mein Fazit hat sich tatsächlich etwas zum Positiven verändert, der Artikel unten ist entsprechend angepasst.
Beim Start meines neuen Charakters habe ich mich über die vielen Änderungen am Grundspiel sehr gefreut. Alle zu Beginn sichtbaren sind sinnvolle Änderungen, teils tatsächlich Dinge, an denen ich mich vorher wirklich gestört hatte.
Teils sind das Kleinigkeiten wie das Telefon. Bei dem war es vorher eine kleine Tortur, per kurzen oder langen Tastendruck in den richtigen Modus zu wechseln, also Anrufe oder SMS. Jetzt ist es ein umschaltbares Interface, von dem aus beides gemacht werden kann und das Spiel bugsiert einen immer in den richtigen Modus. Gleiches Niveau: Die Liste der Shards mit ihren Notizen ist jetzt immer eingeklappt, sodass der gesuchte über die Kategorie viel leichter gefunden werden kann.
Ab jetzt wird es tiefgreifender. Vor 2.0 bestimmten Kleidungsstücke den Rüstungswert, wie in den meisten Rollenspielen. Ein früheres Update hatte schon die Möglichkeit gebracht, statt dem (für die Werte) ausgewählten ein parallel zusammengestelltes Outfit am Körper von V zu sehen. Das ist jetzt seltener nötig, denn generell haben Kleidungsstücke keinen Rüstungswert mehr. Schutz vor Schaden kommt stattdessen durch die Implantate. Dass es die Outfits trotzdem noch gibt macht trotzdem Sinn: Erstens ist so das schnelle Umschalten zwischen verschiedenen Looks möglich, zweitens gibt es doch noch Kleidung, die (geringe) Boni bringt. Aber größtenteils entfällt Kleidung als spielentscheidendes Spieelelement, muss weniger aufmerksam gesammelt oder gar aufgerüstet werden.
Bei den Waffen und Kleidungsstücken entfällt übrigens das sichtbare Levellimit. Stattdessen setzt Cyberpunk rein auf Auto-Balancing, die Qualität der gefundenen Ausrüstung basiert immer auf dem eigenen Level. Dazu unten mehr.
Bei den Implantaten sind also für die Rüstung neue dazugekommen, auch daneben gibt es viele neue. Aber es gibt hier auch neue Limits: Einen Toleranzwert, der abseits einer Fähigkeit im Technikbaum nicht überschritten werden kann. Verschiedene Implantate fressen unterschiedlich viel dieses Wertes, gleichzeitig geben die Implantate mindestens so große Boni wie zuvor. Die Zusammenstellung muss man sich also gut überlegen. Wobei es jetzt auch Implantate der Qualitätsstufe ikonisch gibt, die besonders viel bringen – und besonders viel kosten. Das passt gut in diese Welt der Cyberpsychosis, auch zu dem, wie Cyberpunk in der Netflixserie dargestellt wurde.
Heilgegenstände und Granaten verbrauchen sich nun nicht mehr. Sind sie einmal in einer Qualität gefunden, sind sie für immer verfügbar. Stattdessen wird ihr Einsatz von einem Timer gestoppt. Anfangs zwei geworfene Granaten und es gibt keine dritte mehr, bis die Granaten sich nach ein paar Sekunden wieder aufgeladen haben. Das ist großartig: Es gibt keinen Grund mehr ihren Einsatz generell zu sparen, nur wohldosiert will er sein. Und es vermeidet die Situation, 900 ungenutzte Heilitems im Inventar zu haben und sich fortan durch absehbar jeden Kampf des Spiels durchheilen zu können.
Auch die Fähigkeiten wurden komplett überarbeitet. Es gibt noch die gleichen Kategorien, aber keine Unterkategorien mehr. Und die Fähigkeiten selbst wurden stark abgeändert. Ähnlichkeiten sind da, wie dass Cool für die Wurfwaffen verantwortlich ist und Schleichen erleichtert. Aber die Effekte der einzelnen Fähigkeiten sind komplett umgebaut worden, und sie sind jetzt teils hierarchisch, brauchen also vorher gelernte Fähigkeiten um gewählt werden zu können (und nicht mehr nur genug versenkte Attributpunkte, wobei das immer noch dazukommt). Damit wurde auch viel an der Balance verändert – hatte ich vorher durch die entsprechenden Fähigkeiten einen 1000 Schadenspunkte austeilenden Revolver, bekam ich ihn diesmal nur auf knapp 500. Generell ist die neue V von den Werten etwas weniger stark spezialisiert, war mein Eindruck, wobei die Skills teils sehr coole Zusatzfähigkeiten freischalten, wie das Blocken von Kugeln mit einem Katana oder eine Art kurzen Flug durch die Luft, zusätzlich zum (per Implantat Doppel-)Sprung.
Mit all diesen Änderungen kann nun auf Wunsch Cyberpunk wieder von vorne angefangen, alternativ die Inhalte von Phantom Liberty direkt ausgewählt werden. Ich entschied mich für ersteres und erlebte wieder die normale Geschichte bis zu einen gewissen Punkt, an dem dann V ein neuer Anruf erreicht. Das Szenario: Ein Flugzeug steuert auf Night City zu, genauer: Auf Dogtown. Das ist ein neuer Stadteil, der durch ein Tor vom Rest der Stadt abgeschirmt ist, kontrolliert von einem Militär. V soll dorthin reisen und die Insassen des Flugzeugs retten. Wie das eingeführt und inszeniert wird ist großartig, so wie es schlicht eine Freude ist, eine neue Geschichte in Cyberpunk zu erleben. Von der will ich daher ansonsten nichts weiter spoilern.
Dogtown ist auch nicht einfach ein neuer, ansonsten gewöhnlicher Stadtteil. Nein, er ist wirklich vor die Hunde gegangen. In der Geschichte wurde das Gebiet nach einem Krieg übernommen und nie richtig wieder aufgebaut, es könnte so auch einem (grafisch beeindruckendem) Fallout-Spiel entspringen. Dieser Aspekt wird durch die Nebenmissionen vielfach unterstrichen, auch durch die neuen, nur dort aufzufindenden Kleidungsstücke, von denen viele endzeitlich angehaucht sind.
Gleichzeitig belohnt das Erweiterungsgebiet die investierte Spielzeit durch neue Arten von Skillshards mit permanenten Upgrades, einfliegenden Versorgungskisten mit ikonischen (im Sinne der Qualitätsstufe) Ausrüstungsgegenständen, darunter vielen Implantaten. Das Gebiet bietet auch spezielle Relict-Attributpunkte, mit denen ein neuer kleiner Fähigkeitenbaum mit Zusatzfähigkeiten gefüllt werden kann, was V dann doch nochmal spezialisiert. Das alles ist sehr angenehm.
So toll das alles bis jetzt auch klingen sollte, so hat Phantom Liberty doch auch Probleme, und selbst das Grundspiel hat durch manche Änderungen neue Probleme.
In den Nebenmissionen von Phantom Liberty zeigen die Entwickler eine Unehrlichkeit, die das Hauptspiel vorher vermied. Ein Beispiel: In einer Mission soll ein Transporter von A nach B gebracht werden. Direkt beim Aufbruch gerät ein Kollege in Gefahr, V kann ihn retten, riskiert dann aber mehr Straßenblockaden. Doch das ist mitnichten wahr: Nach der Rettung wird das transportierte Gut automatisch beschädigt ankommen. Rettet man den Kollegen nicht und fährt bewusst in jeden Gegner hinein, das Gut bleibt trotzdem heil. Das Ergebnis ist schlicht geskriptet, anstatt die Konsequenz als Spielinhalt zu verpacken und so eben auch eventuell bewältigbar zu machen.
Im Ergebnis sind die neuen Nebenmissionen oft unbefriedigend. Nicht immer, aber erstaunlich oft gibt es egal ob des Verhaltens, den Entscheidungen und V's Attributen keine gute Lösung. Das reicht bis in die neuen Hauptmissionen hinein: An einer Stelle ist ein Netrunner in Gefahr. V kann mit einem hohen Skillcheck auf Intelligenz schnell seine Verbindung kappen – der Netrunner stirbt trotzdem, der Skillcheck ist nur Zierde. Das Hauptspiel hat fast die gleiche Situation in einem Nebenquest, dort rettet der Skillcheck noch das Leben. Warum ist da das Spiel so? Reichte die Zeit nicht, um verschiedene Konsequenzen später angemessen in der Story zu berücksichtigen?
Mir verleidet das ein bisschen das Spiel. Auch das Hauptspiel hatte solche Missionen, auch die Hauptstory ist düster und stellenweise wirkt sie, als ob es keine guten Möglichkeiten gibt. Aber das stimmt fast immer nur so halb und die Nebenmissionen mit nur schlechtem Ende wurden durch doch positiv beeinflussbare aufgewogen. Diese Balance ist den Entwicklern in Phantom Liberty bisher nicht gelungen und ich befürchte als Spieler ständig, dass die Story der Erweiterung genauso unehrlich ins Desaster führt. Für ein Rollenspiel mit Entscheidungen und Konsequenzen ist das unangemessen. Natürlich darf es feste Katastrophen geben, natürlich darf der positive Ausgang schwer zu erreichen sein, aber immer wieder nur zwischen Pest und Cholera wählen zu können ist frustrierend und unspaßig.
Noch schlimmer ist das neue Autobalancing. Wie oben erwähnt ist das Levellimit bei Waffen weggefallen. Erstmal ist das gut. Cyberpunk setzt das aber durch ein Angleichen der Waffen aller Gegner an das eigene Level um. Ich möchte nicht ausschließen, dass das stellenweise nicht stimmt – vielleicht gibt es immer noch Gegner im Anfangsgebiet, die schwach bleiben. Und ich erlebte definitiv Gegner und Nebenmissionen in später zugänglichen Gebieten, die anfangs zu schwer waren. Doch größtenteils skalieren die Gegner und ihre Ausrüstung mit dem Spielerlevel mit. Missionen haben dementsprechend auch keine Anzeige mehr, ob sie noch zu schwer oder mittlerweile leicht wären. Aber schlimmer noch: Das gleiche gilt für Skillchecks! Nicht alle im gleichen Maße, aber generell fast alle Skillchecks sind sichtlich nicht mehr auf einen Wert festgelegt. Sondern sie werden schwerer, wenn V ein höheres Level erreicht.
Aufgefallen ist mir das erst nach eine Weile, im Delamain-Quest, wo die alternative Lösung für eine wichtige Entscheidung nicht mehr 11 Intelligenz braucht, sondern bei mir 16. Laut Wiki geht das Limit bis 20 hoch. Das sah ich später sowieso oft, dass Türen zu öffnen auf einmal 20 in Technik investierte Attributpunkte brauchte, wo das Hauptspiel vor 2.0 niemals so hochgegangen wäre. Unheimlich frustrierend, weil der Spieler so in Quests später oft (immerhin nicht immer) nur noch von den auf 20 Punkten maximierten Attributen profitieren kann und das Spiel so die Möglichkeit verbaut, sich auf Missionen vorzubereiten. Das minimiert das Fortschrittsgefühl und macht Cyberpunk 2077 zumindest in diesem Aspekt zu einem klar schlechteren Spiel, als es vor 2.0 war.
Dem Fortschrittsgefühl ist auch nicht damit gedient, dass das Levellimit nicht ausreichend erhöht wurde. V kann jetzt Stufe 60 erreichen, also 10 Stufen mehr, aber das bedeutet trotzdem, dass bei Bestreiten auch nur einiger Nebenmissionen das Maximallevel lange vor Spielende erreicht werden wird.
Was mich noch fassungsloser macht sind die Bugs, die ich in Cyberpunk nun wieder erleben darf. Vorab, ich spiele unter Linux mit Proton und kann nicht ausschließen, dass dieses Setup sie teilweise auslöst. Aber es sind von der Art die gleichen Bugs, über die beim Release 2020 berichtet wurde, daher bezweifel ich das.
Ruft V sein Fahrzeug, erscheint es und fährt in die Nähe. Immer wieder kollidiert es dabei mit anderen Fahrzeugen, bleibt in der Ferne stehen, oder fährt zu V, versucht zu bremsen aber schlittert noch 30 Meter weiter, kollidiert gar mit voller Wucht in eine Wand. Das erinnert zwar an Teslas Autopilot, aber ich vermute, dass das Verhalten nicht als cleverer Kommentar gemeint und damit gewollt war.
Ich sah fliegende Autos, die von Kollisionen hunderte Meter in die Luft geworfen waren. Leichen, die in der Luft schwebten. Autos, die harmlos einer Straße entlangfahrend grundlos explodierten. In Dogtown gab es eine Mission in einer Kirche, ständig hört ich draußen das Geräusch von schweren Kollisionen – wahrscheinlich war da eine der Stellen, wo die Autos irgendwie mit der Straße kollidieren, was auf den Schotterstraßen im Nomadengebiet ständig passierte. Das alles sind neue Bugs, die vor 2.0 nicht oder nur seltenst auftraten – mit Ausnahme des Herbeirufens des Fahrzeuges, das funktionierte nie ganz richtig, kollidierte nur seltener mit anderen Autos.
Ich hatte (seltene) Komplettabstürze des Spiels nach Laden eines Spielstands. Und einen Spielstart, bei dem die Musik des Intros nicht aufhörte, selbst beim Laden des Spielstandes nicht. Zu Beginn wurde die Tastatursteuerung zwar akzeptiert, aber trotzdem in der UI die Icons eines Controllers gezeigt. Dieser letzte Bug wurde aber mit dem Patch 2.01 bereits gefixt.
Vor 2.0 auch schon und immer noch im Spiel ist ein Bug, bei dem das Schließen der Karte zu einem Überblendungseffekt führt. Alles wird hell, als ob V von einem Tunnel heraustreten und direkt in die Sonne schauen würde. Diesen Bug immer noch zu erleben ist ziemlich nervig, wobei weder er noch die Masse an Bugs das Spiel unspielbar macht. Denn Blocker waren bei mir nicht dabei.
Mein Fazit der Erweiterung Phantom Liberty und von Cyberpunk 2077 mit den Änderungen von Patch 2.0 ist zwiegespalten. Auf der einen Seite sind da viele sinnvolle Verbesserungen drin. Die neuen Fähigkeitenbäume sind ok, die neue Rolle der Implantate ist klar besser, die Wichtigkeit der Kleidung zu minimieren ist super, dass Crafting keine Fähigkeiten mehr braucht um gut zu sein ist sinnvoll, das Interface wurde an ein paar Stellen mit Bedacht verbessert, Granaten und Hyposprays nicht mehr horten zu müssen bzw zu können ist klasse. Das ist ordentlich Holz. Und sowohl ist Dogtown ein interessantes neues Spielgebiet als auch die dort erzählte Story eine fesselnde, atmosphärisch ist das wieder toll.
Andererseits nervt mich die Skriptlastigkeit mancher der neuen Nebenmissionen, ärgerte ich mich einmal zu oft über den allzu schlechten Ausgang einer Teilstory. Auf mich wirkt es stümperhaft, dass die Autoren so wohl die Gefährlichkeit der dystopischen Cyberpunk-Welt zeigen wollten, anstatt dem Spieler eine faire Chance zu geben. Es muss ja nicht immer der Weltfrieden herbeibeschwörbar sein, aber V sollte wirkmächtig genug sein, zumindest das schlimmste zu verhindern. Was soll das alles sonst? Aber es ist klar, dass sich an der Hinterfotzigkeit der Schreiber bei den neuen Nebenmissionen nichts mehr ändern wird – und ähnliches gilt tatsächlich auch für die Hauptstory der Erweiterung, das ist nur gerade noch erträglich. Ich konnte mich schließlich damit arrangieren, das Spiel mehr noch als eine Story begreifen, die übelsten Ausreißer wie die oben beschriebene Nebenmission mit der Fracht mal ausgenommen.
Völlig inakzeptabel aber sind die vielen neuen Bugs und das übertriebene Autobalancing, gerade die nun von Vs Level abhängenden Skillchecks. Das ist so gravierend, dass ich da fast auf ein Einlenken der Entwickler hoffen würde, ebenso wie sie wohl die Bugs noch reparieren würden, sollten sie nicht doch an Proton hängen. Handeln sie nicht, könnten mit der Zeit bei beiden Problemen Mods aus dem Nexus aushelfen.
Aber sicher kann ich da natürlich nicht sein. Und um Abwarten zu empfehlen ist die Geschichte dann doch zu gut. Phantom Liberty bringt viele tolle Missionen, kleine wie große, und auch einige gute neue Mechaniken. Trotz aller teils unerklärlichen Schwächen ist das Spielen insgesamt doch ein großartiges Erlebnis. Also muss ich die Erweiterung empfehlen, so sehr ich mir auch erhoffe, dass die Macken noch ausgemerzt werden und es eine wirklich perfekte Version von Cyberpunk 2077 geben könnte.