Ich habe am Anfangspunkt dieser Recherche keine Ahnung, ob Hochsensibilität wirklich so existiert, wie sie besprochen wird – als eine bestimmbare Charaktereigenschaft, die mit Fragebogen oder anderen Methoden klassifizierbar ist. Zu wackelig ist Forschung in diesem sozialwissenschaftlich psychologischen Bereich, ist die genutzte statistische Auswertung von Fragebögen zu fragwürdig, zu drückend ist die Replikationskrise.
Wenn es das Phänomen gibt, wüsste ich immer noch nicht, ob ich darunter falle – was mir mehrmals nahegelegt wurde. Mit dem Begriff wird ja ein ganzes Sammelsurium von Eigenschaften gemeint, von denen einige bestimmt jeder für sich beanspruchen wollte, andere jeder von sich weisen würde. Da geht es mir nicht anders. Änderungen weniger gut wegstecken zu können will niemand unbedingt zugeben und wäre mir auch nicht bewusst, Rückzugsmöglichkeiten zu brauchen genausowenig und spricht nicht für den starken Mann, auch nicht stark auf emotionale Szenen in Filmen zu reagieren. Auf der positiven Seite wird bei Hochsensibilität zum Beispiel von einer Verbindung zur Hochbegabung geredet, von einer stärkeren Empathie in gewissen sozialen Situationen, von durch Übung gestähltem Umgang mit stressigen Situationen mit entsprechenden Vorteilen bei der Arbeit.
Das mag alles Quatsch sein. Aber die Anfälligkeit für eine gewisse, vielleicht nicht ganz normale Überempfindlichkeit für Geräusche kann existieren und ich an mir beobachten. Vielleicht ist das interessant mal niedergeschrieben zu sehen.
Beispiele für Unerträgliches
Da ist zuerst Lärm beim Einschlafen. Diese Szene wiederholte sich dutzendfach in meinem Leben: Ich liege in einem Gästebett und kann nicht schlafen, weil irgendetwas summt, oder besonders häufig weil eine Uhr tickt. Nach einiger Zeit stehe ich entnervt auf, hänge die Uhr von der Wand und trage sie aus dem Zimmer. Bei den regelmäßigen Besuchen bei meinen Großeltern hat irgendwann mein lieber Opa, als guter Gastgeber, nach ein paar Wiederholungen dieses Rituals schon selbst die Uhr vor meinem Besuch abgehängt. Nun ist der Einwand klar, lauter Lärm ist für niemanden beim Einschlafen hilfreich. Aber dass der Lärm die andere Person im Bett nicht störte wiederholte sich auch desöfteren und wäre wohl ausschlaggebend.
Man kann sich vorstellen, dass sowas unangenehmer als eine kleine Umräumaktion vor dem Einschlafen werden kann. Als ich nach Frankreich zog wohnte ich eine Weile in einem frisch gebauten privaten Studentenwohnheim. Eine vorher unbesehene Mini-Wohnung. Darin eine integrierte nicht abstellbare Lüftung, also Dauerrauschen. Plus ein regelmäßig lärmender Kühlschrank im kombinierten Schlaf-Wohnzimmer mit Kochnische. Das war Folter, nur ertragbar weil ich schnell lernte mit Ohrstöpseln zu schlafen und tagsüber am PC Kopfhörer trug. Trotzdem hatte ich da diesen einen Tag, als noch dazu im Büro an der Uni irgendetwas summte und es irgendeine stressige Situation gab, dass ich einer Freundin gestand den ganzen Lärm nicht mehr zu ertragen und mich auf ihrem Ratschlag hin ein paar Stunden in den Park setzte. Das half. So einen akuten Rückzugsbedarf hatte ich zuvor nie und danach nie wieder. Nicht, dass ich mich vorher und seitdem nie zurückgezogen hätte, aber der unbedingte Bedarf war nie so heftig – aber es war auch nie wieder so lange so viel Dauerlärm zu ertragen.
Ich habe mich damals gefragt, wie eine integrierte Lüftung mit ihrer Lärmbelästigung legal sein kann. Im Gegenteil sei das in dem Land gerade Vorschrift geworden für Neubauten. Da trifft die Diskussion um Hochsensibilität dann bei mir einen Nerv, weil das recht sauber erklären würde, warum andere Menschen damit kein Problem haben.
Meine anderen Beispiele sind Menschen und zeichnen ein nicht unbedingt sympathisches Bild. Sie klingen nach Misophonie, dafür fehlt aber der unkontrollierbare Ärger.
Da war die eine Weile im gleichen Büro sitzende Doktorandin aus anderem Kulturkreis, die nicht gelernt hatte die Nase zu schnäuzen und stattdessen sie immer wieder hochzog. Widerlich, unerträglich, da konnte sie noch so hübsch sein. Meinen zweiten Bürokollegen schien es nicht zu stören.
Der Junge zur Schulzeit morgens am Frühstückstisch, der sich irgendwann angewöhnt hatte beim Löffeln der Cornflakes auf den Löffel zu beißen, also mit den Zähnen über das Metall zu schleifen. Auch das unerträglich, gerade direkt nach dem Aufstehen. Mein Protest führte zu Beleidigtsein bei ihm, sodass er erst recht so weitermachte, und Schelte für mich von den Eltern. Der Junge isst meines Wissens immer noch so.
Regelmäßig werden Reisen unangenehmer. Bei Zugreisen, wenn ein Sitznachbar ein Ekel ist und an den Nägeln knibbelt, ist das unheimlich schwer auszublenden. Besonders, wenn der die dann zerbeißt, dieses "Knack". Unhöflich ist das für alle, aber offensichtlich gibt es Menschen, die sich trotzdem so verhalten (und sich also nicht dran stören?). Wenn bei Autoreisen der Fahrer einen Tick hat und immer wieder geistesabwesend mit seinem Fingernägel über das geriffelte Material des Lenkrads fahren muss ist das wenigstens nicht eklig, aber auch schwierig zu ertragen.
Konsequenzen, auch für die Arbeit
Bestimmte Dinge nicht gut ertragen können, das ist eine gute Umschreibung. Bestimmte Geräusche, Lärm, Reize.
Im Zusammenhang dem Phänomen zugeschriebenes weitergehendes, also z.B. den geübten Umgang mit Stress und gleichzeitig die vermehrte Entstehung desselben bei vielen gleichzeitigen Aufgaben, kann ich weniger gut einschätzen. Natürlich vermeidet man die, aber das machen alle, oder? Natürlich sind wir alle mehr oder weniger geübt darin, mit stressigen Situationen umzugehen und haben unsere Taktiken, richtig? Dass ich gerade – es ist 15 Uhr – in einem abgedunkelten ruhigen Raum sitze ist auch völlig normal und keine verinnerlichte Reizreduzierungsstrategie, zweifellos? Und dass ich nur selten Kaffee trinke und dann das Koffein deutlich spüre ist auch nur eine zufällige Überschneidung mit dem Fragebogen (der sowieso fragwürdig ist), keine Frage.
Thema abgedunkelter Raum: Ohne Witz ist das ja tatsächlich meine bevorzugte Arbeitsumgebung. Bevor ich diesen Artikel schrieb habe ich entspannt an einem Skript programmiert, das hier ist der Raum, in dem ich das letzte Jahr gearbeitet habe, generell entstanden in solchen Umgebungen fast alle meine Softwareprojekte. Wenn diese Eigenschaft wirklich existiert und ~20% der Bevölkerung betrifft, erklärt das die heftigen Reaktionen zum Gegenmodell Großraumbüro. Dann ist es eben nicht nur so, dass mit 50 Personen gefüllte Menschenställe für bestimmte Arbeiten nicht passen, sondern, dass sie für einen relativ großen Teil der Bevölkerung kaum zu ertragen sind. Während die verbliebenen 80% kein Problem wahrnehmen. Gleichzeitig erhöhte Hochsensibilität den Reiz der Heimarbeit für manche, während andere höchstens die reduzierte Pendelzeit als Vorteil sehen.
Also ein hilfreiches Modell?
Hey, klar: So zusammengeschrieben klingt Hochsensibilität erstmal total passend für mich und schlüssig als Konzept. Aber es ist ja nicht immer so, die beschriebenen Situationen wiederholen sich ja nicht alle fünf Minuten. Das Klackern meiner mechanischen Tastatur stört mich null, zu meiner eigenen und zur Verblüffung der Hausphysikerin. Und dass manche Menschen Lärm weniger gut ertragen als andere macht noch keine feste Persönlichkeitseigenschaft, mit der dann alles mögliche andere verbunden ist. Im Zweifel ist da einfach nur eine Lärmempfindlichkeit, was dann gleich noch weniger positiv klingt, die manche typische Konsequenzen hat.
Ich habe daher massive Zweifel daran, dass Hochsensibilität so existiert wie es besprochen wird. Schon vom Wort her ist es zu einfach, damit positives zu verknüpfen, sodass dann nahezu jeder zwecks Wunschdenken sich entsprechend deklarieren wird. Jeder ist mal von Lärm, Stress oder Gerüchen gestört, will mal alleine sein und sieht sich gelegentlich als empathisch; Jeder kann die Klassifizierung dann entsprechend rechtfertigen. Jede Frauenzeitschrift wird die Eigenschaft positiv thematisieren, etwaiges Leid romantisieren. Die mit dem Konzept dann auch beschriebenen negativen Aspekte sind im Extrem schwer nachzuvollziehen, für nicht tatsächlich betroffene – wenn es denn Betroffene gibt – entsprechend kaum einzuschätzen. Eine Selbsteinschätzung per Fragebogen ist für sowas völlig anfällig, entsprechend völlig ungeeignet. Man müsste schon mit Gehirnscans Unterschiede bei der Reizverarbeitung nachweisen. Dazu gibt es eine Studie, die immerhin nahelegt, dass es ein solches Phänomen gibt. Aber mit 18 Teilnehmern ist es unzulässig, davon auf die große Masse zu schließen, zudem wurden von ihr nur Teilaspekte (wie eben Empathie durch Emotionenidentifikation) getestet. Dass manche darin besser sind als andere ist unstrittig, die Überschneidungen mit dem Fragebogen in dem Aspekt erstmal nicht überraschend, auf den ersten Blick sehe ich bei diesen Ergebnissen auch keine Aufdröselung nach Geschlecht, was bei Empathie relevant erscheint.
Völlig unklar ist mir auch, was davon Gewöhnung ist. Wie viel der Bevorzugung des abgedunkelten Büros ist veranlagte Reizreduzierung, wie viel ist Gewöhnung durch die Notwendigkeit des Abdunkelns früher, angesichts der damals nicht ausreichend hellen Bildschirmen? Bevorzugen manche Leute eine ruhige reizarme Arbeitsumgebung, weil sie entsprechend veranlagt sind, oder weil sie es kaum anders kennen, und nach zwei Monaten im Großraumbüro wäre da kein wahrnehmbarer Unterschied zu den lärmerprobten Kollegen?
Aber bis mindestens dahin gibt es diese Empfindlichkeit eben, ob sie als Hochsensibilität mit anderen Eigenschaften zusammengepackt wird oder nicht. Für die Existenz von Lärmempfindlichkeit als solche habe ich ja genug Beispiele beschrieben. Auch die Annahme der Existenz des vollen Phänomens ist in einem gewissen Umfang hilfreich. Erstens schafft es eine verständliche Grundlage für Vermeidungsstrategien, für die Rechtfertigung derselben auch vor sich selbst. Das Verbannen der tickenden Wanduhr aus dem Gästezimmer z.B. ist dann kein Spleen mehr, sondern angemessen. Zweitens erklärt es auch in vielen anderen Situationen eigene Reaktionen, Verhaltensweisen und Stimmungen. Beispielweise die oben beschriebene Szene aus meiner Anfangszeit in Frankreich, oder auch die unerwartete und überraschend stark gefühlte Erleichterung, als durch einen vorherigen Umzug ein (vorher mir gar nicht als Problem bewusster) regelmäßiger Straßenlärm aus meinem Leben verschwand.
Und vielleicht erklärt sich so auch entsprechend unentspanntes Verhalten während Dauerlärms, aber da wird es wackelig. Aber als einfaches Beispiel, alles so zusammengeschrieben ist es kein Wunder, dass eine gute passive Geräuschisolierung bei meinem letzten Kopfhörerkauf ein gesetztes Auswahlkriterium für mich war. Oder warum ich mich über die Lärmreduzierung durch fan2go so gefreut habe.
Noch wackeliger wäre der Versuch, mittels Hochsensibilität bestimmte meiner Stärken in manchen Bereichen bei Hochbegabung ausschließenden Schwächen in anderen zu erklären. Aber es würde so gut passen, dass ich den Reiz des Konzepts nur zu gut verstehen kann.
Ich zweifel daran, dass es Hochsensibilität gibt. Aber ob es sie gibt oder nicht: Es gibt genug andere Sensibilitäten wirklich, die in diese Richtung gehen. Wenn wir Arbeit und Leben mit Rücksicht auf diese entsprechend organisieren können, kann das nur ein Vorteil sein. Für vermeintlich Betroffene helfen Selbstakzeptanz, Kopfhörer, Ohrenstöpsel und wenn möglich eine angepasste Berufswahl.