LineageOS ist die große alternative Androiddistribution, die übliche Wahl, will man ein Smartphone von Googles Diensten befreien oder einem nicht mehr unterstütztem Gerät neues Leben einhauchen. Das Lineage-Projekt unterstützt eine fantastisch große Auswahl an Telefonen (und ist daher prominent auf meinem nachhaltigem Telefonfinder sustaphones vertreten) und bietet für sie ein schlankes Android mit einigen nützlichen Kernprogrammen. Ich selbst nutze LineageOS seit Jahren für mein privates Telefon und hatte sogar mit dem Spark+ von Wileyfox die kommerziellen Bemühungen des Vorgängerprojekts unterstützt. Und als Anwendungsentwickler bemühte ich mich, unsere Anwendungen auf LineageOS lauffähig zu halten und testete entsprechend auch damit.
Aber gerade in 2023 haben sich bei mir Zweifel breitgemacht, ob LineageOS für mich – und teilweise, für alle – die richtige Wahl ist. Daher habe ich schon dieses Jahr nach Alternativen geschaut und glaube, dass sich das 2024 verstärken wird.
Probleme mit Bankingapps und mehr
Tatsächlich habe ich schon ein Gerät umgestellt: Mein Zweittelefon. Das dient eigentlich als Backup und bekam mit dem Wechsel zu /e/ (vom Murenaprojekt) die Zusatzaufgabe, Anwendungen für Banken und ähnliches abzudecken. Auch deswegen fehlten die in meiner Appliste letzte Woche, neben Sicherheitsbedenken.
Auf Lineage funktionieren diese Apps nicht, nicht ohne weiteren Aufwand zumindest. Ich bin genau einer einzigen Bankapp begegnet, bei der das anders war: Consorsbank SecurePlus funktionierte den negativen Bewertungen zum Trotz direkt hervorragend. Alle anderen von mir getesteten aber kommen ohne Google-Dienste nicht zurecht.
Die aber liefert LineageOS nicht. Man kann sie manuell mitinstallieren, hängt dann aber wieder am Haken von Google, wofür ein Android wie LineageOS doch genau die Alternative ist. Doch scheinbar sieht sich LineageOS selbst nicht so: Da es konsequent Begrenzungen von Android ohne Google nicht ausbügelt scheint der beabsichtigte Nutzungsmodus der mit den Googlediensten zu sein. Dass dem so ist, wird aber nicht kommuniziert.
Das zweite Beispiel dafür ist die Lokalisierungsfunktion. LineageOS kann natürlich GPS – aber GPS alleine ist eine Qual und funktionierte in der Praxis bei mir noch nie. Googles Android fängt das mit einer Funkzellenlokalisierung auf, mit der erstmal eine etwas ungenauere Position bereitsteht, GPS liefert dann nach einer Weile die Feinpositionierung. Doch LineageOS baut dieses Verhalten nicht nach.
Doch kann man das dem Projekt negativ zurechnen, liegt der Hund nicht bei Android selbst begraben? Andere Projekte zeigen: Das ginge durchaus besser. So gibt es mit microG eine Alternative zu den Googlediensten. Bei /e/ ist die vorinstalliert, deswegen funktionieren dort alle von mir getesteten Bankenanwendungen. Und für die Funkzellenlokalisierung gibt es UnifiedNlp mit einer Datensammlung von Mozilla im Hintergrund. Lineage müsste das nur einbauen.
Aber nicht nur macht LineageOS das nicht: Es macht es auf vielen Ebenen schwieriger, sowas selbst nachzuholen. Zum Beispiel, indem Signatur-Spoofing nicht unterstützt wird, was unter anderem zur Anfangszeit von Corona für die microG-Implementierung der Bluetooth-API gebraucht wurde. Und indem keinerlei Lösung für Root bereitgestellt wird. So war es mir deswegen mittlerweile unmöglich, den Rootrechte benötigenden Advanced Charging Controller richtig zu aktivieren. Früher gab es da mit Magisk eine Lösung, die entwickelte sich aber zwischendurch ebenfalls unbrauchbar und hätte nach jedem Lineage-Update eine Neuinstallation gebraucht. Für letzteres kann Lineage erstmal nichts, aber Lösungen stellt das Projekt eben auch – laut Eigenaussage gar absichtlich – nicht bereit.
LineageOS macht sich ungezwungen unsympathisch
So sitzt LineageOS schon mit seiner Ausrichtung zwischen allen Stühlen. Nur mit Googlediensten zu funktionieren spricht nur Massennutzer an, die aber installieren eher sowieso kein alternatives Android. Wenn ich aber also einen Fork mit microG benutzen müsste, warum soll ich dann überhaupt bei LineageOS bleiben und nicht ein Projekt wählen, das direkt auf solche Nutzungsprobleme eingeht?
Doch es ist mehr als das: LineageOS verbietet sogar die Diskussion über solche Probleme. Und generell über alle Probleme, die Nutzer mit dem Projekt haben könnten. So sehen die Reddit-Regeln aus:
- Do not ask for an ETA
- Do not ask whether your device will be supported
- No VoLTE requests
- Bugs should be reported by following the instructions on the wiki, they should not end up here.
- Don't ask for help with non-Lineage ROMs. We only support LineageOS, not things 'based on' LineageOS.
- Do not ask for features to be added
- No Xposed/Magisk/SuperSU/MicroG/Substratum discussion
- Please don't post links to unofficial builds or unofficial news sources. If it's not lineageos.org -- it's not official.
- Don't write news/make announcements that primarily pertain LineageOS
Nicht nur ist das unheimlich repressiv: Es ist auch in den Details wahnsinnig. VoLTE zum Beispiel, das heißt Voice over LTE. In manchen Ländern wie den USA wurde mit 3G auch gleich 2G abgeschafft, über dieses Netz liefen zuvor die Telefongespräche. Die sollten jetzt alle über LTE (4G) laufen. Das geht mit manchen Providern und manchen Geräten, aber nicht mit allen. Es ist ein absoluter Blocker für viele betroffene Nutzer, es ist existenzgefährdend für das gesamte Lineage-Projekt. Und das offizielle Supportforum verbietet nun jede Diskussion und jedwede Nachfrage darüber, denn so wird diese Regel von den Moderatoren interpretiert. Ergebnis sind frustrierte Nutzer und ein Unvermögen, innerhalb des Projekts dieses extreme Problem anzugehen.
Oder das mit den Funktionen: Nicht nur ist das genau, wie man FOSS-Projekte nicht machen sollte, weil Funktionswünsche von Nutzern elementar wichtig für jede sinnvolle Weiterentwicklung sind. Mit dieser Regel werden sogar Dokumentationswünsche geschlossen, bei denen der nachfragende Nutzer anbietet die nötige Arbeit selbst zu machen! Es ging da bei einem mir besonders übel aufstoßenden Post um ein Datum, das der Nutzer von sustaphones hätte übernehmen können, was ich ihm anbot. Nach dem Schließen des Threads wurde dann da natürlich nichts draus, die anderen Lineagenutzer sind ärmer dafür.
Und natürlich brauchen Nutzer einen Ort, um den Entwicklungsstand der nächsten Versionen zu erfragen! LineageOS kommuniziert null mit seinen Nutzern. Es gibt keine Ankündigungen einer Projektleitung (gibt es die überhaupt?), keine Entwicklertagebücher (ins Blog wurde seit einem Jahr nicht geschrieben), Pläne für die Zukunft bleiben unbekannt, es gibt gar nichts. Anstatt dann bei Nachfragen das als Problem zu erkennen und durch irgendeine Form von Transparenz ihren Quell zu beseitigen, verbieten sie mit den Fragen das Symptom.
Lineage macht es sich wirklich unnötig schwer. Es ist ein Projekt, das eine engagierte Nutzercommunity brauchen würde, es vergrault aber in seinem Hauptdiskussionsforum so effizient wie möglich jeden engagierten Nutzer. Es ist ein Projekt, das freie Software und ein befreites Android bewirbt, ist dann aber ohne Googledienste nur mit starken Einschränkungen nutzbar und tut nichts dagegen – verbietet sogar die Diskussion über existierende Lösungen. Und es ist ein Projekt, das die starke Anpassbarkeit des Systems bewirbt, blockiert aber an allen Stellen wo möglich ebendiese, wo auch immer sie über das Anpassen des Bildschirmhintergrundes hinausgeht.
Sind das die Auswirkungen der gescheiterten Kommerzialisierung? Meine Theorie ist, dass LineageOS als Cyanogen sich von allem fernhalten wollte, was Google oder Provider verärgern könnte. Deswegen war dann ein Sprechen über Restriktionsmanagement wie Safety-Net und existenzbedrohendes wie VoLTE verboten. Das ist nun nach der Pleite im Nachfolgeprojekt immer noch so, ohne dass es irgendeinen validen Grund geben würde.
Welche Alternativen es gibt
Dieses Verhalten von LineageOS schafft immerhin Platz für andere Androidprojekte. Viele davon sind Forks von LineageOS, bessern aber die Nutzungsprobleme aus. So bei dem von mir getesteten /e/, das nicht nur mit microG meine Bankanwendungen unterstützt, sondern direkt eine gute funktionierende freie App integriert hatte, um diese auch aus dem Playstore zu installieren und automatisch zu aktualisieren. Zusätzlich werden von dem System weitere Alternativen zu den Googleapps bereitstellt. Nicht alles davon funktioniert wohl perfekt, aber wenigstens ist da überhaupt ein Problembewusstsein und Lösungswille erkennbar.
Ähnlich bei CalyxOS: Auch hier ist microG und sind die Mozilla Location Services vorinstalliert, zusätzlich setzt das System einen sehr viel stärkeren Fokus als LineageOS auf Datenschutz und Sicherheit. Das macht es zu einer klar besseren Wahl, wird das genutzte Telefon denn unterstützt.
So ähnlich geht es weiter. iodé sah ich in letzter Zeit oft erwähnt, wie /e/ baut das auf LineageOS auf, kommt mit microG und minimiert besser als LineageOS die Datensendung an Google und installiert F-Droid vor. Praktisch! Volla bietet inzwischen auch microG und ein eigenständiges Bedienkonzept und scheint den Anspruch zu haben, mehr Nutzungsprobleme durch eigene Apps aufzufangen (Außeneindruck, ich habe es noch nicht getestet), so ist F-Droid ebenfalls vorinstalliert. F-Droid gibt es nochmal direkt bei DivestOS, bei dem noch dazu der Entwickler bei meinem Kontakt angenehm mit seinen Nutzern redete, zusätzlich proprietäre Blobs viel konsequenter als bei LineageOS entfernt werden.
Das alles wären direkte Alternativen, die Android mit Android ersetzen. Mein Traum eines brauchbaren Linuxtelefons (in dem Fall tatsächlich relevant: ich meine GNU/Linux) hat sich bisher nicht materialisiert. Ubuntu Touch hat aber weiterhin ein starkes Konzept, das dann irgendwann mit Waydroid eine brauchbare Alternative bieten könnte, aber noch ist es nicht so weit. Jolla mit seinem SailfishOS dürfte da etwas weiter sein und wäre ebenfalls eine Möglichkeit. Immerhin verkaufen sie ihr Betriebssystem als praxistauglich, andererseits ist es nicht frei. Und in der Ferne ist da auch noch PostmarketOS, auf eine Art der vielversprechendste Linuxansatz für Telefone, wobei wohl bisher auf keinem Gerät alltagstauglich und ich keinen Grund habe anzunehmen, dass sich das 2024 ändert.
Tatsächlich werde ich jetzt nicht direkt mein Telefon mit einer Alternative neu aufsetzen. Ich habe mich mit dem Zweittelefon als Zwischenlösung arrangiert. Aber die Lebenszeit meines G5 dürfte schon aufgrund der alternden Hardware arg begrenzt sein, außerdem war bereits die weitere Versorgung mit LineageOS 20 (=Android 13) wegen des benötigten Kernelupgrades total überraschend. Geht es da auf der einen oder der anderen Seite zu Ende, dann ist der Moment gekommen und ich werde mir eine der Alternativen zu Lineage herauspicken. Oder wer weiß, vielleicht überrascht mich das Projekt nochmal und unterstützt nicht nur das G5 weiter, sondern geht auch ein paar der identifizierten Projektprobleme an.
Denn ich denke, dass LineageOS sich als Projekt wirklich verbessern kann und solche negativen Eindrücke vermeiden könnte. LineageOS scheint an sich ein sehr erfolgreiches Projekt zu sein, ist vielgenutzt und gleichzeitig Grundlage weiterer toller Projekte. Hat es da diese Nutzerfeindlichkeit nötig? Hat ein solches Projekt wirklich keine Ressourcen für eine transparentere Projektplanung und Problematisierung? Ist es wirklich unmöglich, die im Diskussionsforum aufschlagenden Nutzer besser einzubinden? Und woher kommt diese Schockstarre angesichts existentieller Nutzungsprobleme wie VoLTE, der Unwille, Nutzungsprobleme von Android abseits der Googledienste anzugehen? Warum ist die Distanz zum Geist der Linuxdistributionen so groß?
Und um versöhnlicher zu enden: Völlig klar muss auch sein, dass eine solche Projektkritik keine Kritik an jedem einzelnen Entwickler ist. Solche Projekte entwickeln sich in unsichtbaren Gruppendynamiken. Zudem sind wahrscheinlich der Großteil der engagierten Entwickler nie im von mir stark kritisierten Redditforum auch nur lesend gewesen. Und selbst dort habe ich neben einzelnen Menschenfeinden, die nie wieder in einem solchen Projekt wirken sollten, intelligente, sympathische und freundliche Projektmitglieder beobachten können. Ich weiß aus eigener Projekterfahrung, dass nutzerfeindliche Entwickler bzw Moderatoren nicht immer direkt auffallen und von ihnen auf die anderen zu schließen völlig unfair sein kann.
Ich wünschte nur, Lineage würde gar nicht erst die Grundlage für eine solche Kritik geben und ich sie hier nicht entsprechend einordnen müssen.
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