Disco Elysium, oder: Ich preise ein Meisterwerk
Monday, 2. October 2023
Disco Elysium hat bei Release sehr hohe Wertungen bekommen, mit der manchmal zu lesenden Einschränkung, dass das ungewöhnliche Rollenspiel nicht jeden ansprechen werde. Für mich, siehe Titel, war es großartig.
Aufwachen als namenloser Polizist
Das Szenario klingt nur im ersten Moment gewöhnlich. Zwar ist ein Gedächtnisverlust der Hauptprotagonisten bei Rollenspielen nichts neues, aber hier sei der nach Tagen des Dauersuffs und Durchfeierns eingetreten. Während im Garten des Hotels – zu dem das Zimmer gehört in dem man aufwacht – immer noch die Leiche am Baum hängt, wegen der man hier ist. Zumindest ist das die Version, die man zu Beginn hören wird.
Wahnsinnig ungewöhnlich ist auch die Art, wie man aufwacht. Innere Stimmen sprechen zu einem und wollen überzeugen, nicht aufzuwachen, der Schlaf sei doch so viel angenehmer als das Aufwachen und Erinnern. Es sind verschiedene Stimmen, verschiedene Teile des Gehirns und Körpers. Darauf kann man eingehen, oder widersprechen. Schafft man es, nach dem Aufwachen die Krawatte vom Deckenventilator zu holen (was absolut nicht garantiert ist) fängt plötzlich die an zu reden. Wahnsinnig eben.
Vom seltsamen Handeln in einer obskuren Welt
Auf diese Gespräche hat man Einfluss, also sowohl auf die inneren als auch auf die mit anderen Personen. Je nach anfänglicher Punkteverteilung sind die Charaktereigenschaften unterschiedlich ausgeprägt. Eine hohe Autorität führt zu anderen eingeworfenen Bemerkungen als eine hohe Empathie und das wiederum zu anderen eigenen Gesprächsoptionen.
Aber auch welche Optionen man wählt hat einen Einfluss. In der Hinsicht ist Disco Elysium wirklich ein Rollenspiel. So lehnte ich ins Absurde und ließ meinen Polizisten sich immer wieder als Disco-Polizist vorstellen, der mit Disco (und also: Tanzen, Feiern und früher Trinken) Fälle löst. Was zu herrlichen Reaktionen führt, aber vor allem zu Erstaunen beim in der Hotellobby angetroffenen sympathischen Begleiter Kim. Nochmal mehr, wenn dieser Ansatz dann wirklich immer mal wieder funktioniert. Aber ich hätte mich auch als gewöhnlicher Polizist vorstellen können, mir einen Namen ausdenken oder die Namensnennung vermeiden und mich wirklich dem Fall und der Polizeiarbeit widmen.
In und außerhalb der Gespräche gibt es oft Skillchecks, die hier je nach Fähigkeitenwert und anderen Faktoren (wie manchmal möglicher Vorbereitung, z.B. dem passenden Werkzeug in der Hand) eine prozentuale Erfolgswahrscheinlichkeit haben. Scheitern sie, können viele nochmal probiert werden, nachdem die Fähigkeit einmal erhöht wurde. Aber oft ist es auch okay wenn sie scheitern, sind sie nicht spielentscheidend und gibt es alternative Wege, passt das Scheitern gar zum Charakter – was den Unterschied ausmacht zu Wasteland 2, wo ich ein solches System massiv kritisierte. Gegen Ende und bei ein paar Szenen hat das System mich doch zum Schnellladen verleitet, aber oft genug konnte ich die Ergebnisse auch beim Scheitern akzeptieren. Fehlschläge und bestimmte Ereignisse können jedoch auch Lebens- oder Moralpunkte kosten, fallen sie auf Null ist das Spiel vorbei. Das setzt dem eigenen Verhalten Grenzen. Der verfrühte Tod kann aber meist noch durch Heilitems verhindert werden.
Man macht mehr, als nur mit den vielen Bewohnern des Stadtteils zu reden. Aber nicht unbedingt viel mehr. Man kann sich in dem kleinen Gebiet frei bewegen, mit ein paar temporären Blockaden. Es gibt Gegenstände, die ins Inventar wandern. Teilweise Ausrüstungsgegenstände, welche die eigenen Werte beeinflussen (und als Kleidung Kommentare auslösen können). Gegenstände zum interagieren, was dann als Gespräch mit dem Gegenstand aufgebaut ist. Und viele, die für die vielen Quests eine Rolle spielen. Runden- oder Echtzeitkämpfe, eigentlich ein elementarer Bestandteil vom Computer-Rollenspielen, gibt es nicht.
Ton, Dichte, Reaktivität
Disco Elysium ist mehr als seine ordentlich funktionierenden Spielmechaniken. Sein Ton, seine Dichte und seine Reaktivität machen es toll. Der Ton kommt primär durch die Art der Gespräche, gerade auch der Selbstgespräche, die manchmal an Sunless Sea und Teile von Planescape Torment erinnern, verstärkt durch die unglaublich gute Sprachausgabe (die im Final Cut vervollständigt wurde). Aber auch die Geschichte spielt hier rein, die (vielleicht) Schritt für Schritt aufgedeckt wird, die ich aber nicht spoilern will. Die Dichte kommt durch die unzähligen Querverbindungen, die vielen möglichen Aufgaben und die schiere Anzahl an interessanten, voll ausgestalteten Gesprächspartnern. Und Reaktivität ist klar, es stehen viele Handlungsoptionen offen, auf die oft überraschend reagiert wird; Eben nicht nur einmalig im Mikrokosmos des einen Gesprächsfensters, sondern immer wieder auch durch spätere Folgereaktionen auf das bestimmte Ereignis oder die eingenommene Haltung. Da ist es fast schade, dass viele reguläre Gespräche eben doch wiederholbar sind.
Aber natürlich kann das Spiel kein komplett freies Rollenspiel sein. Durch die angebotenen Optionen und durch den Charakter der Spielwelt wird es auch immer eine bestimmte Richtung haben – in meinem zweiten Anspielen als No-Nonsense-Polizist sprach wieder die Stadt selbst mit mir und erzählte von ihrer Geschichte, will meine Wirbelsäule nicht das ich aufstehe. Es gibt zudem unweigerlich immer diesen nostalgischen und traurigen Unterton, durch die wohl gesetzte schmerzliche Vergangenheit und verstärkt durch die Zerstörtheit der Stadt
Doch es gibt genug Gesprächs- und Handlungsoptionen, um in diesem Rahmen mehr als nur eine Rolle konsequent zu spielen, und es gibt die entsprechenden Reaktionen und Auswirkungen. Gerade hier brilliert Disco Elysium, wenn auch noch der absurdeste Nebenquest und das seltsamste Gespräch durch passende Ergebnisse weitergesponnen wird – und das oft überschwappt in die Haupthandlung.
Das Ergebnis spielt sich großartig und ist unheimlich fesselnd. Es wirkt nur auf eine andere Art fesselnd als wie CRPGs normalerweise funktionieren. Das erklärt die Einschränkung bei den Empfehlungen. Die Bindung funktioniert weniger durch die teils auch vorhandenen mechanischen Rollenspielelemente wie dem Hochleveln und Ausrüsten, sondern mehr durch das intellektuelle Rollenspiel in einer unbekannten und andersartigen Welt, durch (wenn auch limitiertes) Handeln in der Welt und primär den Gesprächsoptionen.
Bugs
Umso schmerzlicher ist es dann, wenn mein Wirken in der Welt durch technische Probleme blockiert wird. Das ist mir nur einmal aufgefallen, aber es war extrem unglücklich: Um ein wichtiges verlorenes Ausrüstungsstück wiederzuerlangen sollte nachts an einem bestimmten Ort ein Treffen stattfinden. Ich war da, die Kontaktperson nicht. Mit dem Problem bin ich nicht alleine, es finden sich ein paar Berichte im Internet. Leider war dieses Treffen auf den letztmöglichen Tag gerutscht, ich musste den Rest des Spiels mit dem Verlust leben, was wichtige Auswirkungen auf die Handlung hatte. Neuladen auf einen vorherigen Tag hätte zu viel Spielfortschritt zerstört, eine Lösung fand ich nicht.
Bei Disco Elysium ist immer der unfassbare Aufwand spürbar, der in diese Millionen Zeichen zählende Texte, die unglaublich vielen Interaktionen, die extrem ausgearbeitete Spielwelt, die perfekten Sprecher (besonders Hauptsprecher Lenval Brown, der mit verstellter Stimme die Hälfte des Spiels allein vertont hat) und den passenden Grafikstil mit seinen Zeichnungen geflossen ist. Das zu sehen ist dann schier unglaublich und mir unerklärlich, wie ein solches Spiel produziert werden konnte. Noch unglaublicher, dass ein solches – und das ist positiv gemeint – verkopftes Werk dann sogar erfolgreich war. Dass das möglich war ist ein Zeichen dafür, wie weit Computerspiele als Medium bereits gekommen sind, wie weit auch die Spielerschaft ist. Okay, klar, hier im Blog sind so einige beliebte Spiele aufgetaucht deren Reiz nicht aus einer simplen Massentauglichkeit stammt – Deus Ex, Metro Exodus, Baldur's Gate; Computerspiele sind schon lange ein komplexes Medium. Aber Disco Elysium setzt mit seiner künstlerischen Unzugänglichkeit nochmal einen drauf und war trotzdem sehr erfolgreich, das erstaunt mich einfach.
Disco Elysium hat alle Merkmale eines Unikats mit einer enthaltenen künstlerischen Vision, die nur in einer bestimmten und nicht replizierbaren Umgebung zu einem fertigen Spiel werden konnte. Selbst wenn die gleichen Leute es nochmal probieren würden, ich würde niemals darauf wetten, dass das Ergebnis wieder so gelingen könnte. Der Versuch, es in eine wiederholbare Formel zu pressen – wie sie bei Filmen existiert – würde es zerstören.
Dass andererseits mittlerweile der hinter dem Spiel stehende Autor Kurvitz aus dem Studio gekickt wurde, samt einer laut Vorwurf korrupten feindlichen Übernahme und dem Diebstahl der Marke durch einen Unternehmer, passt dann wieder eher zu unserer normalen Realität. Mit einem würdigen Nachfolger ist wegen all dem in absehbarer Zukunft nicht zu rechnen, vielleicht nie.